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Fünf Fragen aus dem Netz(werk)

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Fünf Fragen aus dem Netz(werk)

Wie kann Menschen die Angst vor der Digitalisierung genommen werden? Was braucht es, damit Individuen angesichts großer, datenhungriger Konzerne souverän mit ihren Daten umgehen können – und kann das überhaupt gelingen? Wir haben fünf Expert*innen aus dem Netzwerk ‚Digitales Deutschland‘ gebeten, uns Fragen an das Projekt zu stellen. Vielen Dank dafür an Dr. Jane Müller, Dr. Harald Gapski, Dr. Guido Bröckling, Prof. Andreas Büsch und Dr. Markus Maquard! Unser Projektteam gibt Antworten.

Dr. Jane Müller (FAU)

Dr. Jane Müller arbeitet am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Medienpädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Dort leitet sie die Forschungsgruppe Digitale Souveränität Jugendlicher (DiSoJu), die sich mit Einflussfaktoren und Rahmenbedingungen der digitalen Souveränität von Jugendlichen befasst.

Bereits früh in der ersten Projektphase wurde das Rahmenkonzept von ‚Digitales Deutschland‘ entworfen und vorgestellt. Inwiefern haben sich aus den anschließenden Arbeiten im Projekt Ergebnisse ergeben, die Veränderungen bzw. Anpassungen des Rahmenkonzepts notwendig machen, und wie sehen diese aus?

Wie der Name schon sagt, bildet das Rahmenkonzept ‚Digitales Deutschland‘ den Umriss der zugrunde liegenden Projektarbeit. Darin werden theoretische Grundlagen und Bezüge unserer Arbeit dargestellt sowie der konkrete Untersuchungsgegenstand definiert: In ‚Digitales Deutschland‘ geht es um die Medien- und Digitalkompetenz der Bevölkerung und wie diese dazu beitragen kann, ein souveränes Leben im digitalen Wandel zu unterstützen.

Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Studienergebnisse hat sich das Rahmenkonzept als tragfähiges Instrument zur Analyse des Umgangs mit digitalen Medien und KI-Systemen erwiesen. Außerdem dient es als Ausgangspunkt dafür, die formulierten Grundlagen weiterzuentwickeln. Hervorgehoben werden kann dabei die Differenzierung der Kompetenzdimensionen, nach denen die erforderlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten unterschieden werden. Da die im Rahmenkonzept angelegten Kompetenzdimensionen aus einer Auswertung von bereits vorliegenden Kompetenzbegriffen hervorgehen, bündeln sie in gewisser Weise den Diskussionsstand der Konzeptentwicklung, erfordern aber genau genommen eine stetige Aktualisierung – diese steht noch aus.

Ungeachtet dessen hat sich die derzeitige Differenzierung in sechs Kompetenzdimensionen in der Projektarbeit als besonders ergiebig erwiesen. Außerdem eröffnete sich hier das größte Potenzial zur Weiterentwicklung. Während die instrumentell-qualifikatorische, die kognitive und die kritisch-reflexive Dimension von Medien- und Digitalkompetenz in den meisten Kompetenzmodellen – teilweise mit anderen Bezeichnungen – eine tragende Rolle spielen, gilt dies für die soziale, die kreative und die affektive nicht im gleichen Maße.

Auch im Rahmenkonzept ist die kritisch-reflexive Dimension bislang als elementar für ein souveränes Leben im digitalen Wandel konzipiert. Bei der kritisch-reflexiven Dimension handelt es sich um die Fähigkeit, das eigene Medienhandeln sowie das anderer ebenso wie die medialen und digitalen Strukturen mit analytischem Wissen kritisch zu beurteilen.

Stärker akzentuiert haben wir im Laufe der Projektarbeit aber die affektive Kompetenzdimension, deren Relevanz im Prozess der Kompetenzaneignung kaum überschätzt werden kann. Mit unseren Studien konnten wir zeigen, wie stark Emotionen das Bild von KI und auch die Bewertung der Technologie prägen: Dystopische Angstnarrative beeinträchtigen eine offene Herangehensweise an KI-Systeme, während eine positiv gestimmte Einstellung eher förderlich für die Aneignung von KI-Technologien ist. Nicht zuletzt birgt die affektive Dimension von Medienerlebnissen Anknüpfungspunkte für eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung – etwa wenn Nutzer*innen darüber nachdenken, woher die Social-Media-App weiß, dass sie auf der Suche nach neuen Sneakers sind.

Daneben gestaltet sich der im Rahmenkonzept angelegte Begriff der Kompetenzanforderung dynamisch. Aber dies ist wieder eine andere Frage …

Dr. Harald Gapski (Grimme- Institut)

Seit 2016 leitet Dr. Harald Gapski den Bereich Forschung am Grimme-Institut, wo er zuvor bereits als Projektleiter im Bereich Medienbildung/Medienkompetenz arbeitete. Die Schwerpunkte seiner Forschung umfassen unter anderem digitale Kompetenzen und Theorien der Medienbildung.

In vielen empirischen Studien – auch im Projekt DigiD – wird die Zielgruppe nach ihrer Selbsteinschätzung zu bestimmten Kompetenzen gefragt. Welche Unterschiede zeigen sich zwischen diesen Selbsteinschätzungen und den tatsächlich nachgewiesenen Kenntnissen und Fähigkeiten?

Kompetenz zu erforschen ist herausfordernd. Denn zumeist kann Forschung lediglich Performanz erfassen, also die Fähigkeit, kompetent zu handeln, sie kann jedoch nicht direkt Kompetenz messen (Ganguin et al. 2020). Häufig wird einer der folgenden Wege eingeschlagen, um sich Kompetenz in der Forschung anzunähern:

Zum einen können Menschen nach ihrer Selbsteinschätzung gefragt werden. Studien (z. B. Zell und Krizan 2014) weisen darauf hin, dass zwischen Selbsteinschätzung und Handeln Unterschiede bestehen können. Dieser Zugang bietet jedoch aus unserer Sicht den Vorteil, dass auf diese Weise sichtbar wird, als wie kompetent (und damit auch wie selbstwirksam) sich Menschen erleben. Dies ist aus mehreren Gründen interessant.

  1. Kompetenzerleben ist – folgt man der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993) – eines von drei Grundbedürfnissen, durch die sich Motivation erklären lässt. Motivation wiederum spielt eine wichtige Rolle dabei, Neues zu lernen und das Gelernte anzuwenden – also beispielsweise im Umgang mit digitalen Medien kompetent zu handeln.
  2. Eigene Erfahrungen werden so in entsprechenden Situationen gebündelt.
  3. Selbsteinschätzungen können einen Hinweis auf Handlungssicherheit geben und damit darauf, inwiefern Menschen Unterstützung benötigen. Dies wird besonders deutlich, wenn eine Person davon ausgeht, dass etwas wichtig ist, jedoch zugleich annimmt, sie persönlich kann es nicht. Im ersten „Kompass: Künstliche Intelligenz und Kompetenz 2022“ zeigt sich dies etwa, wenn es darum geht, die Privatsphäre in digitalen Räumen zu schützen.
  4. Nicht zuletzt sind Selbsteinschätzungen stets durch soziale Normen geprägt, beispielsweise Vorstellungen darüber, wie „erwünscht“ bestimmte Fähigkeiten in der eigenen Lebenswelt sind. Sie geben damit auch Aufschluss über gesellschaftlich konnotierte Kompetenzzuschreibungen, die ebenso Handlungsbedarfe aufzeigen können.

Zum anderen kann Kompetenz erforscht werden, indem Handeln beobachtet wird. Hierbei bleibt jedoch unklar, welche Bedingungen in einer Situation zur gezeigten Performanz geführt haben und ob in anderen Situationen dieselbe Performanz gezeigt werden könnte. Diese „Messung“ ist also extrem störanfällig.

Einblicke, wie (kompetent) Menschen mit digitalen Medien handeln, können hingegen die qualitativen Studien im Rahmen des Projekts geben: So zeigt etwa die Studie über subjektive Alltagstheorien, dass Menschen breit gefächerte Vorstellungen darüber haben, wie algorithmische Kuratierung funktioniert und wie sie ihr Verhalten dementsprechend anpassen müssen. Darauf aufbauend entwickeln Menschen Strategien, wie sie ihre alltagsweltlichen Ziele selbstbestimmt erreichen können.

Eine weitere Studie zum Erleben von KI-Technologien durch Personen mit Migrationsgeschichte macht zudem darauf aufmerksam, dass Menschen Unterstützung benötigen, um algorithmische Inhalte und KI-Systeme kritisch bewerten zu können. Denn sie nehmen eine Ungleichbehandlung durch KI eher selten bewusst wahr, was mit anderen empirischen Studien im Einklang steht (z. B. MeMo:KI 2020).

Da wir selbst im Projekt keine Kompetenz gemessen haben, lässt sich mit Blick auf die Untersuchungsschwerpunkte und -zielgruppen nicht festmachen, inwiefern sich Kompetenzeinschätzung und tatsächliche Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien und Systemen konkret unterscheiden. Der gewählte methodische Zugang hat aber aufschlussreiche Erkenntnisse zu handlungsbezogenem Kompetenzempfinden, Relevanzzuschreibungen und Unterstützungsbedarfen in unterschiedlichen Lebensphasen und -situationen ermöglicht.

Dr. Guido Bröckling (JFF)

Dr. Guido Bröckling leitet das Büro Berlin des JFF und dort den Bereich Praxis. Er befasst sich unter anderem mit der Medienkompetenzförderung von Menschen aus benachteiligenden Strukturen und war in der ersten Modulphase an der Entwicklung des Projektes Digitales Deutschland beteiligt.

Was ist der Unterschied zwischen Kompetenzanforderungen und Kompetenzen?

Der Begriff der Kompetenzanforderungen wurde im Rahmenkonzept von ‚Digitales Deutschland‘ aufgegriffen und ausdifferenziert. Das Rahmenkonzept dient dazu, vorliegende Konzepte und empirische Evidenzen zu Medien- und Digitalkompetenz systematisch zu erfassen und einzuordnen. „Zentrale Bestandteile einer Kompetenzdefinition sind, dass Kompetenzen Fähigkeiten und Fertigkeiten beschreiben, die Subjekten unter Rückgriff auf Wissensbestände und Erfahrungen sowie deren Reflexion eine Orientierung im Handeln und das Umsetzen von Handlungen erlauben, mit denen Subjekte an sich (selbst) gestellte Anforderungen selbstbestimmt und verantwortungsvoll bewältigen können“ (Rahmenkonzept, S. 3).

Um den Begriff der Kompetenzanforderungen zu differenzieren, kann zunächst festgehalten werden, dass vorliegende Konzepte zur Medien- und Digitalkompetenz in der Regel einen normativen Charakter haben, d. h. sie sind mit expliziten oder impliziten Vorstellungen von einem ‚richtigen‘ vs. ‚falschen‘ bzw. einem wünschenswerten Umgang mit Medien verbunden (Kutscher 2009, S. 11). Der normative Charakter von Medien- und Digitalkompetenz ist eng geknüpft an die Anforderungen, die sich Subjekte als Handlungsziele selbst stellen, und jene, mit denen sie in ihren Handlungsvollzügen konfrontiert sind. Zu den eigenen, subjektiven Anforderungen an eine Handlung kommen also immer noch medial und gesellschaftlich geprägte Anforderungen hinzu, die sich aus dem konkreten Handlungskontext ergeben. Insofern drückt sich die Kompetenz von Subjekten im Handeln als Vermittlung von eigenem Wollen, individuellem Können, gesellschaftlichem Sollen sowie technischen Angebotsvoraussetzungen aus (vgl. Peters 2017). Die Beschreibung von Kompetenzanforderungen trägt also auch dazu bei, die Normativität von Kompetenzbegriffen aufzuzeigen und einer kritischen Betrachtung zuzuführen.

Eine weitere Funktion des Begriffs der Kompetenzanforderungen ergibt sich aus der Einsicht, dass Kompetenzen handelnd erworben werden und (nur) im Handeln sichtbar werden (Performanz). Mit der Analyse der (jeweils konkreten) Anforderungen beim Kompetenzerwerb wird also auch die (jeweils konkrete) Ausprägung von Medien- und Digitalkompetenz erschließbar. Kompetenz ist subjektiv, medial und gesellschaftlich geprägt, ebenso wie die Handlungssituationen, in denen sie entstanden ist.

Kompetenz und Kompetenzanforderung sind also ein untrennbarer Erklärungs- und Begründungszusammenhang. Daraus resultiert auch die Unterscheidung beider Begriffe:

  • Kompetenzanforderungen sind konkrete situations- und gegenwartsbezogene Anforderungen in der Lebenswelt von Subjekten. Kompetenzen sind dagegen überdauernd und übertragbar auf andere Situationen.
  • Situative Kompetenzanforderungen entstehen im Abgleich zwischen subjektiven Handlungsmotiven und -zielen und den jeweiligen techno-sozialen Bedingungen. Diese Anforderungen können sich durch gesetzliche Rahmenbedingungen, soziale und technologische Veränderungen oder neu gelagerte Motive und Handlungsziele des Subjekts verändern. Kompetenz passt sich den veränderten Kompetenzanforderungen an, ist fluide und kann analytisch nur als Prozess erfasst werden.

Kompetenzanforderungen sind an Motive und Handlungsziele von Subjekten gebunden. Kompetenzen sind dann diejenigen Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissensbestände, mit dem diese (und vom Subjekt als ähnlich bewertete) Kompetenzanforderungen bewältigt werden.

Prof. Andreas Büsch (KH Mainz)

Andreas Büsch ist Professor für Medienpädagogik und Kommunikationswissenschaft an der Katholischen Hochschule Mainz. Dort leitet er seit 2012 die Clearingstelle Medienkompetenz der Deutschen Bischofskonferenz. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Medienkompetenzvermittlung und Medienbildung sowie medienethische Fragestellungen.

Relecture Medienkritik: Wie lässt sich neben der notwendigen Befähigung zur kompetenten Bewältigung jeweils neuer Anforderungen auch die notwendige kritische Kompetenz fördern – für alle Milieus und Zielgruppen, um den Interessen von Datenkonzernen auch individuell souverän begegnen zu können?

Den Interessen von Datenkonzernen als Individuum kritisch und souverän zu begegnen spricht insbesondere die kritisch-reflexive Dimension von Medien- und Digitalkompetenz an (vgl. Rahmenkonzept). Die Fähigkeit, digitale Medien und Systeme „kritisch in sozialer und ethischer Verantwortung für sich selbst und andere zu betrachten und zu bewerten“ (Theunert 2009, S. 202), ist zentraler Bestandteil der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit der Subjekte vor dem Hintergrund des digitalen Wandels. Dies umfasst das kritische Auseinandersetzen mit und die Reflexion über die Inhalte und Bedingungen der Produktion von digitalen Medien und Systemen, aber auch die Reflexion der Einflüsse von digitalen Medien und Systeme auf die eigene Person sowie auf die Gesellschaft.

Mit Blick auf die eigene Person finden sich Nutzer*innen in einem Dilemma wieder: Entsprechende Angebote nutzen sie gern, auch wenn ihnen die Problematik der Datensouveränität bewusst ist. Insbesondere hinsichtlich der großen Datenkonzerne ist zudem eine Machtasymmetrie zu beobachten – Nutzende können sich nicht umfassend informieren und frei entscheiden, welche Dienste sie nutzen und welche Bedingungen sie akzeptieren. In vielen Fällen müssen sie, um teilzuhaben, Kompromisse in Kauf nehmen. Die individuelle Handlungsmacht kommt so an ihre Grenzen. Diese Grenzen gilt es zu reflektieren.

Dabei kommt die gesellschaftskritische Komponente der kritisch-reflexiven Dimension ins Spiel. Um sich kollektiv zu organisieren, die Machtasymmetrie aufzulösen und an politischen Prozessen zur Regulation von Datenkonzernen teilzuhaben, spielen daneben aber auch alle weiteren Kompetenzdimensionen eine Rolle.

Bei der Förderung der kritisch-reflexiven Dimension von Medien- und Digitalkompetenz werden vor dem Hintergrund der empirischen Arbeit des Projekts drei Punkte virulent:

  1. Die Förderung von Kritikfähigkeit und Reflexionsprozessen kann und sollte immer an die lebensweltlichen Erfahrungen der Nutzer*innen anschließen. In der pädagogischen Arbeit auf individuelle Medienerlebnisse zu rekurrieren fördert die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und macht die individuelle Relevanz des Themas sichtbar. In unseren Studien schildern uns Menschen aus allen Altersgruppen irritierende, für sie ‚gruselige‘ Medienerfahrungen bezüglich ihrer Datensouveränität: Kinder, die sich fragen, ob TikTok sie über die Kamera sehen kann, Jugendliche, die nicht nachvollziehen können, woher Instagram weiß, wen sie kennen, und Erwachsene, die eine Totalüberwachung durch Datenkonzerne vermuten. All diese Erfahrungen können Ausgangspunk für eine Förderung von Medienkompetenz sein.
  2. Ein kritischer, kompetenter Umgang mit Datenkonzernen setzt neben notwendigem Strukturwissen (kognitive Dimension), etwa zur marktwirtschaftlichen Organisation von Unternehmen, auch affektive Fähigkeiten zum Umgang mit Wut, Grusel oder Ohnmachtsgefühlen voraus. Dafür sind auch explorativ-kreative Handlungsweisen im Umgang mit Medienangeboten und deren Voraussetzungen hilfreich.
  3. Das Fördern von Medien- und Digitalkompetenz reicht nicht aus, um Einzelne zu empowern, Datenkonzernen kritisch und souverän zu begegnen. „Dort, wo Medien Selbstbestimmung strukturell nicht zulassen – etwa bei intransparenter Datensammlung oder manipulativer Steuerung –, lässt sich ein objektiv selbstbestimmter Medienumgang auch durch Kompetenzförderung nicht annähernd erreichen“ (Brüggen et al. 2022, S. 94). Kompetenzförderung muss durch Datenschutz flankiert werden. Gerade mit Blick auf die Bedeutung des Medienhandelns für die Teilhabe an Gesellschaft ist die Nichtnutzung von Angeboten großer Datenkonzerne keine Option für den Großteil der Nutzer*innen. Dies verweist auf eine strukturelle Ebene, die Hand in Hand mit der Förderung von Medien- und Digitalkompetenz gehen muss.

Dr. Markus Marquard (ZAWiW Uni Ulm)

Dr. Markus Marquard ist Geschäftsführer des Zentrums für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung (ZAWiW) der Universität Ulm. Vorrangig beschäftigt er sich mit der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation innovativer Bildungsprogramme, die für ältere Menschen und für den Bereich des intergenerationellen Lernens konzipiert werden.

Wie können wir – insbesondere ältere – Menschen, die sich durch die Digitalisierung bedroht fühlen, in die digitale Welt mitnehmen?

Die Frage spiegelt eine gängige gesellschaftliche Wahrnehmung wider, die viele Menschen beschäftigt: Ältere Menschen fühlen sich eher von der Digitalisierung bedroht und sollten in die digitale Welt mitgenommen werden. Unsere Studien zum höheren Lebensalter haben jedoch gezeigt, dass diese Wahrnehmung differenziert zu betrachten ist, da ältere Menschen, die an einem sicheren Umgang mit digitalen Medien interessiert sind, normalerweise auch erreicht werden.

Dabei können generationsübergreifende Kontakte hilfreich sein: Ergebnisse aus der Forschung zeigen, dass ältere Erwachsene, die Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen, mit größerer Wahrscheinlichkeit Zugang zum Internet haben als ihre Altersgenossen – unabhängig von Bildung, Einkommen und kognitiven Fähigkeiten. Menschen, die diesen Zugang und das Interesse, digitale Medien zu nutzen, nicht haben, werden von entsprechenden Angeboten eher nicht erreicht.

Eine zentrale Rolle spielt hierbei, dass ältere Menschen digitalen Technologien häufig keinen Bedarf oder Nutzen zuschreiben oder dass sie Angst vor der Nutzung haben, etwa vor Abo-Fallen, versteckten Kosten oder davor, aus Versehen Einstellungen zu verändern. Es kann also hilfreich sein, den persönlichen Nutzen von digitalen Medien auch jenen Menschen aufzuzeigen, die sich bedroht fühlen.

In jedem Fall sollten ihre Ängste ernst genommen werden. Eine mögliche Lösung scheint darin zu liegen, „das Selbstvertrauen in die eigene Handlungskompetenz (Selbstwirksamkeit) zu stärken“ (Hartung-Griemberg und Bogen 2022, S. 4). Als besonders effektiv haben sich niedrigschwellige, informelle, kostengünstige oder -freie Bildungsangebote vor Ort erwiesen, die Möglichkeiten der Mitbestimmung von Lerninhalten und -formaten eröffnen und sich an den Interessen der Menschen orientieren (z. B. Café-Runden). Um dies gewährleisten zu können, sind jedoch strukturelle und gesellschaftliche Anpassungen notwendig, bspw. durch hauptamtliche Mitarbeiter*innen vor Ort und durch den Abbau von negativen Altersbildern. 

Gleichzeitig gilt es zu betonen, dass nicht nur ältere Menschen teilweise (Berührungs-)Ängste angesichts des digitalen Wandels empfinden. Diese Sorgen und Verunsicherungen auch strukturell zu erfassen und sichtbar zu machen ist Aufgabe der Forschung, die damit Impulse für Bildungs- und politische Entscheidungsträger*innen geben kann, um wissenschaftliche Erkenntnisse in lebensweltnahe Praxiskontexte zu transferieren.

Literatur

  1. Brüggen, Niels; Dreyer, Stephan; Gebel, Christa; Lauber, Achim; Materna, Georg; Müller, Raphaela; Schober, Maximilian; Stecher, Sina (2022): Gefährdungsatlas. Digitales Aufwachsen. Vom Kind aus denken. Zukunftssicher handeln. Aktualisierte und erweiterte 2. Auflage. Herausgegeben von: Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz. Bonn 2022.
  2. Deci, Edward L.; Ryan, Richard M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik (39), S. 223-238.
  3. Ganguin, Sonja; Gemkow, Johannes; Haubold, Rebekka (2020): Medienkritik zwischen Medienkompetenz und Media Literacy. Medien- und subjektspezifische Einflüsse auf die medienkritische Decodierungsfähigkeit. In: MedienPädagogik (37), S. 51–66.
  4. Hartung-Griemberg, Anja; Bogen, Cornelia (2022): Ermöglichungsbedingungen des Erwerbs von Digitalkompetenzen im Alter: Ergebnisse einer Expert*innen-Studie. In: Familienbund der Katholiken (4), S. 3-7.
  5. Huxhold, Oliver; Hees, Elena; Webster, Noah J. (2020): Towards bridging the grey digital divide: Changes in internet access and its predictors from 2002 to 2014 in Germany. In: European Journal of Ageing (17), S. 271-280.
  6. Kutscher, Nadia (2009). Ungleiche Teilhabe – Überlegungen zur Normativität des Medienkompetenzbegriffs. MedienPädagogik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung. Themenheft 17: Medien und sozio-kulturelle Unterschiede. www.medienpaed.com/17/kutscher0904.pdf
  7. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs) (2021): SIM-Studie 2021. Senior*innen, Information, Medien: Basisuntersuchung zum Medienumgang von Personen ab 60 Jahren in Deutschland. Stuttgart.
  8. MeMo:KI. 2020. Meinungsmonitor Künstliche Intelligenz. Künstliche Intelligenz und Diskriminierung. Factsheet Nr. 2 (August).  https://www.cais-research.de/wp-content/uploads/Factsheet-2-Diskriminierung.pdf.
  9. Zell, Ethan; Krizan, Zlatan (2014): Do People Have Insight Into Their Abilities? A Metasynthesis. In: Perspectives on psychological science : a journal of the Association for Psychological Science 9 (2), S. 111–125.

Zitation

Berg K., Cousseran L., Lauber A., Schober M., Tausche S. 2023: Fünf Fragen aus dem Netz(werk). Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/digitales-deutschland/fuenf-fragen-aus-dem-netzwerk/

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