Von der Informations- zur Kompetenzplattform

Dr. Roland Poellinger | Münchner Stadtbibliothek

Veröffentlicht am 15.12.2023

Die öffentliche Bibliothek als Befähigungs­raum für digital kompetente Communitys

Gesellschaft im Wandel – Bibliothek im Wandel

Die Rolle der Bibliothek ist seit jeher eng an das Informationsbedürfnis der Gesellschaft geknüpft. Als Haus des Lesens und Lernens, der Sprache und des miteinander Sprechens kommt der Bibliothek schon immer die Funktion zu, Türen zu öffnen: Durch Sammeln, Kuratieren, Präsentieren und Beraten werden Daten und Informationen zugänglich gemacht und der Weg zum Wissenserwerb bereitet. Mit der Präsenz im Quartier ist es besonders die öffentliche Bibliothek (in Kontrast zur wissenschaftlichen), die mit dem Ohr an der Stadt den gesellschaftlichen Puls erspüren, Themen aufgreifen und den öffentlichen Diskurs mitformen kann. Wenig überraschend hat demnach die Vielzahl, Vielgestalt und Gleichzeitigkeit der momentanen gesellschaftlichen Änderungsprozesse auch deutlichen Einfluss auf die Arbeit der öffentlichen Bibliothek. Gemeint sind insbesondere folgende Prozesse, die in unseren zentralen Lebensbereichen sichtbar werden:

  1. Der urbane Raum dehnt sich aus, während gerade der innerstädtische Bereich eine stetige Verdichtung erfährt. Während die Wohnkosten steigen, werden öffentliche, kommerzfreie Räume weniger.
  2. Der Bedarf an inklusiver Gestaltung in allen Bereichen wird größer. Gebaute Räume müssen neu geprüft bzw. in der Planung neu gedacht werden. Analog dazu beginnt gutes Design von digitalen Räumen und Onlineservices mit Barrierefreiheits- und Inklusionsüberlegungen.
  3. Der Wissensbegriff ändert sich mit der permanenten Verfügbarkeit von Information auf persönlichen mobilen Geräten. Der leichte Zugang zu Informationen erfordert ein neues Bewusstsein für deren Herkunft und neue Kompetenz bei deren Bewertung.
  4. Die Technisierung aller Lebensbereiche und die Digitalisierung als Kulturwandel schaffen gleichzeitig neuen Nutzen und neue Möglichkeiten, aber auch neue Ängste und neue Schwellen. Bei technikaffinen Menschen steigen die Erwartungen an digitale Produkte, während technikfernere oder technikaverse Menschen sich zunehmend abgehängt fühlen. Im Spannungsfeld dieser Extreme droht eine Spaltung der Gesellschaft.

Vor dem Hintergrund dieser Prozesse wandelt sich auch die öffentliche Bibliothek – als Ort, in ihrer Funktion und in ihrem Selbstverständnis. Mit dem eigenen Anspruch, Ort für alle und Schule für Demokratie zu sein, stellt die obige Viergliederung eine vierfache Herausforderung für die öffentliche Bibliothek dar:

  1. Wie kann das Raumangebot der öffentlichen Bibliothek für die Stadtgesellschaft verbessert und ausgeweitet werden?
  2. Wie kann die öffentliche Bibliothek einen wirksamen Rahmen für Diversität und Inklusion schaffen?
  3. Wie kann die öffentliche Bibliothek dem veränderten Wissensbegriff und einem neuen Informationsbedarf gerecht werden?
  4. Wie kann die öffentliche Bibliothek dazu beitragen, Teilhabe an digitaler Kultur und demokratischer Gesellschaft zu fördern?

Die Ausführungen in den folgenden Abschnitten zielen speziell auf die letzte Herausforderung ab. Indem die Bedingungen für das Gelingen skizziert werden, soll gleichzeitig verdeutlicht werden, warum eine gute Antwort auf diese vierte Herausforderung auch tragfähige Antworten auf die vorangegangenen Fragen erfordert.

Der konzeptionelle Impuls soll am Beispiel der Münchner Stadtbibliothek illustriert werden, die auf der Basis gemeinsamer Werte in ihrer digitalen Strategie ein Stufenkonzept von digitaler Inklusion als strategisches Ziel formuliert.

Eine digitale Strategie als wertebasierter Wegweiser

Als eine der größten kommunalen Bibliotheken Deutschlands stellte die Münchner Stadtbibliothek 2022 ihre digitale Strategie vor, die es ihr ermöglichen soll, den digitalen Wandel mit all seinen Auswirkungen auf die inhaltliche Arbeit an Bestand und Themen, auf den Umgang mit Katalog und Daten, Bestandsvermittlung, Kulturarbeit, Kompetenzförderung, Infrastruktur und Technik aktiv zu gestalten. Das Strategiepapier „Vernetzte Daten/offene Räume“ führt dabei die Vision 2025 der Münchner Stadtbibliothek in sieben digitalstrategischen Zielen fort, setzt Schwerpunkte und systematisiert Themen als Fokus und Perspektive für die Arbeit im digitalen Raum und mit digitalen Mitteln. Die Strategie ist betont kein Digitalisierungsplan, sondern ein wertebasierter Wegweiser durch eine komplexe Landschaft auf der Grundlage einer gemeinsam verhandelten Haltung. Die Betonung der Wertebasis macht die digitalstrategische Ausrichtung stabil im Angesicht rascher technologischer Innovation und schnell wechselnder digitaler Trends.

Zentrale Leitprinzipien der digitalen Strategie sind Kund*innenzentriertheit (neues Publikumsbewusstsein) und Nachhaltigkeit (neues Ressourcenbewusstsein). Das Kernziel der digitalen Strategie der Münchner Stadtbibliothek fußt auf dem Wert der Offenheit als gemeinsamer Haltung: Die offene Bibliothek nutzt das Digitale dazu, so niedrigschwellig wie möglich Zugänge zum vielfältigen Angebotsspektrum zu schaffen. Die sorgfältige Gestaltung von Zugängen zu Technik, Inhalten und Kompetenzen sind dann Gegenstand des strategischen Ziels digitale Inklusion. Beide Ziele sollen im Folgenden näher beleuchtet und konkret illustriert werden.

Die offene Bibliothek

Angesichts kommerzialisierter Onlinemedien und des immer dichteren urbanen Raums wird das kommerzfreie Raumangebot öffentlicher Bibliotheken immer wichtiger für die Stadtgesellschaft. Dabei ist hier der Bibliotheksraum in seiner Vielschichtigkeit gemeint: Offene Inspirationsräume sollen Anregung bieten, niedrigschwellige Lernräume zum Erkunden einladen, soziale Begegnungsräume den Austausch fördern und Kreativräume das aktive Gestalten und Mitgestalten ermöglichen. Im Physischen sind das Lese-, Lern- und Arbeitsbereiche neben Vortragsraum, Kinderkino, Kaffeeküche und Gaming-Ecke. Im Digitalen sind es die Recherchetools, Datenbanken und E-Medien-Kataloge, Social-Media-Kanäle und gestreamte Events neben der technischen Konnotation der Openness in allen Facetten: Open-Library-Technik soll Kund*innen den Zugang zur Bibliothek auch außerhalb der Servicezeiten ermöglichen, Open (Meta-)Data verspricht Zugang zu bibliografischen Katalogdaten, mit der Idee des Open Content sollen wertvolle Archivobjekte digital zugänglich gemacht werden, und in Open Labs darf miteinander erprobt und erfunden werden.

Abbildung 1: Das Four-Spaces-Modell der öffentlichen Bibliothek (aus Jochumsen, Rasmussen, Skot-Hansen 2012).

Die zugrunde liegende Idee des verschränkten Bibliotheksraums lässt sich besonders gut im dänischen Modell der öffentlichen Bibliothek [1] darstellen (siehe Abbildung 1). In diesem Modell sind vier zentrale Funktionen des Bibliotheksraums (als physischer wie virtueller Erfahrungsraum) zueinander in Beziehung gesetzt. Das Four-Spaces-Modell kodiert auf diese Weise Aktionsmodi von Nutzer*innen öffentlicher Bibliotheken und kann in der Bibliotheksarbeit als Radar zum Ausloten der eigenen Potenziale verstanden werden: Wo der klassische Lernraum der Bibliothek auch Inspirationsort ist, dort wird Information zu anwendbarem Wissen, Erlebnis und Erfahrung (Experience). Raum für Innovation ist dort gegeben, wo neue Ideen konkret umgesetzt werden können. Die dritte und vierte Funktion stellen den Bezug zu unserer Eingangsfrage nach den Bedingungen für das Gelingen von Teilhabe an demokratischer Gesellschaft und digitaler Kultur her: Gemeinsames Gestalten wird zur Beteiligung (Involvement), wenn Bibliotheksnutzer*innen aufgefordert sind, aktiv mitzumachen und sich einzubringen. Und Jochumsen et al. sehen Raum für die Befähigung (Empowerment) von Einzelnen oder von Communitys (besonders auch von sozial schwächer gestellten Gruppen) genau dort, wo Zugang zu Information und Wissen (Lernraum) mit der Möglichkeit des Austausches (Begegnungsraum) zusammenkommen.

Das strategische Kernziel der Münchner Stadtbibliothek betont diese spannungsreiche Multifunktionalität des Erfahrungsraums und ist entsprechend vielschichtig formuliert:

Wir gestalten Räume zum Lernen, für Inspiration, Begegnung und kreative Beteiligung. Mit digitalen Mitteln öffnen wir physische, virtuelle und soziale Räume, Datenspeicher, Erlebnisräume und Gedankenwelten.

Während dieses Leitprinzip für die Gestaltung des Bibliotheksraums in all seinen Facetten als strategischer Rahmen formuliert ist, nimmt das Ziel der digitalen Inklusion ganz speziell die Ebenen von Zugänglichkeit auf dem Weg hin zu eigener Befähigung und echter Beteiligung in den Fokus.

Digitale Inklusion

Um der Ungleichverteilung von Chancen und Möglichkeiten digitaler Technologien und damit einer digitalen Spaltung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken, formuliert die Münchner Stadtbibliothek in der digitalen Strategie den Anspruch, als inklusive Plattform ihren Nutzer*innen auf vielfältige Weise zu ermöglichen, im Digitalen dabei zu sein und in der digitalen Gesellschaft mitzuwirken. Der Gedanke der inklusiven Plattform geht dabei über die Bedürfnisse Einzelner hinaus und zielt auf die Befähigung der Community (bzw. vielfältiger, miteinander interagierender Communitys) ab: Die Bibliothek bringt nicht nur Menschen mit Informationsressourcen zusammen, sondern – in der Verschränkung von Lernraum und Begegnungsraum – auch Menschen mit Menschen. In ihrer Analyse des Digital Inclusion Survey (durchgeführt unter anderen von der American Library Association im Jahr 2014 und in den Kernaussagen immer noch aktuell) beschreiben Bertot et al. den Beitrag der öffentlichen Bibliothek zu einer digital inklusiven Gesellschaft in deutlichen Worten:

[…] public libraries can be expected to have significant influence in the digital domain moving forward. As many individuals lack the resources or abilities to fully engage in an increasingly digitally dependent society, libraries will continue to act as not just promoters of digital inclusion, but guarantors of digitally inclusive communities. [2]

Die zugrunde liegende Studie untersuchte die Rolle der öffentlichen Bibliothek in vier Schlüsselbereichen: (i) öffentlich bereitgestellte Technik und Infrastruktur, (ii) digitale Inhalte und Services, (iii) Digitalkompetenzen sowie (iv) themenbezogene (Programm-)Angebote (in den Bereichen Bildung, Gesundheit, bürgerschaftliches Engagement und Arbeitsmarkt). Diese Bereiche können als aufeinander aufbauend verstanden werden, wie in Abbildung 2 illustriert:

Auf dem Weg zur Teilhabe am digitalen Leben geht es zunächst um den basalen Zugang zu Technik. Öffentliche Bibliotheken erfahren großen Zuspruch als Lern- und Arbeitsorte – der Bedarf an einladender Aufenthaltsqualität, langen Öffnungszeiten und kostengünstig (bzw. kostenfrei) nutzbarer technischer Infrastruktur ist hoch. Dazu gehören WLAN, Stromanschlüsse, PC-Arbeitsplätze mit aktueller Software sowie die Möglichkeit zum Drucken, Kopieren und Scannen.

Mit einem wachsenden Angebot an digitalen Medien und Onlinedatenbanken schaffen öffentliche Bibliotheken noch direkteren Zugang zu Inhalten – vor Ort, daheim und unterwegs. Auch wer eingeschränkt mobil ist, kann beispielsweise aus der Ferne auf ein breites Medienangebot zugreifen. Die Zugänglichmachung digitaler Inhalte geht dabei über eine rein technische Bereitstellung hinaus: In der Rolle der inspirierenden Kuratorin und kompetenten Navigatorin zeigt die Bibliothek kontextschaffend und bedeutungsstiftend Lernwege auf. Die Schaffung digitaler Tools fürs Kuratieren und die Verknüpfung von digitalem und physischem Bestand sind dabei eine spannende Herausforderung (und ebenfalls Gegenstand der digitalen Strategie der Münchner Stadtbibliothek).

Abbildung 2: Digitale Inklusion als vierstufiges Konzept.

Gleichzeitig mit dem immer größeren digitalen Bestandsangebot und dem Zugang zur technischen Infrastruktur wandelt sich auch das Vermittlungsangebot der öffentlichen Bibliothek: Der Zugang zu Wissen erfordert in einer digitalen Informationsflut verstärkt Orientierungsfähigkeit, während es mehr und mehr nur mit eingeübten digitalen Kompetenzen gelingt, Fakten, Meinung und Meinungsmache zu erkennen und zu unterscheiden. Das 2016 von der Europäischen Kommission vorgestellte Rahmenkonzept DigComp 2.0 beispielsweise systematisiert die umfangreichen Vorbedingungen für digitale Teilhabe nach intentionalen Kriterien: Neben Informations- und Datenkompetenz sind Fähigkeiten zum Erstellen eigener Inhalte, Fertigkeiten in digitaler Kommunikation und digitalem Teamwork sowie Kenntnisse zu Schutz und Sicherheit im Internet neben ganz neuen Kompetenzen im Erkennen und Lösen technischer Probleme gefordert.

Die Nutzer*innen der öffentlichen Bibliothek finden zu diesen Themen nicht nur im Bestand eine Fülle von Inhalten, sondern sind auch zu einer Vielzahl an vermittelnden Programmen und Beratungsreihen eingeladen. Wieder einmal geht aber die echte Förderung digitaler Kompetenzen über die Einladung zu Vorträgen und das Bereitstellen von Lernmaterialien hinaus. Mit Medienworkshops und offenen Beteiligungsformaten (wie beispielsweise Kultur-Hackathons) lädt die Bibliothek zum digitalen Kreieren und Mitmachen ein, öffnet handlungsorientiert Räume zum Einüben digitaler Kulturtechniken und Zugänge zur digitalen Lebenswelt. Mit der Einrichtung von thematischen Digital-Labs an verschiedenen Standorten hat sich die Münchner Stadtbibliothek beispielsweise das Ziel gesetzt, in Hands-on-Formaten die Schwellen zu senken. Diese Perspektive auf den Kompetenzerwerb als laborhaftes Erproben und als Lernprozess im nonformalen Kontext lässt sich mit dem Rahmenkonzept Digitales Deutschland (2020) des Münchner Instituts für Medienpädagogik beleuchten, in dem die Kompetenzdimensionen entlang des Aneignungsprozesses formuliert sind, eng am individuellen Denken und Handeln: [3] Digital-Labs wie Tonstudio, Multimediawerkstatt und Games-Lab sollen Münchner Bürger*innen jeden Alters dazu einladen, sich gemeinsam schöpferisch mit dem Bibliotheksangebot auseinanderzusetzen. Die instrumentelle und kognitive Dimension digitaler Kompetenzen wird im gestalterischen Miteinander um die kreative und soziale Komponente erweitert. Der geschützte gemeinsame Erfahrungsraum lässt darüber hinaus sowohl den Blick nach innen zu (zur Bewusstmachung der eigenen Emotionen – evtl. sogar zur Auskunft darüber) als auch die gemeinsame Verhandlung und kritische Betrachtung von digitalen Medien(inhalten) und deren Wirkung. Als Ort für alle wird die öffentliche Bibliothek so praktischer Erfahrungsraum von digitaler Kultur und demokratischer Gesellschaft.

In der digitalen Strategie der Münchner Stadtbibliothek ist dieses vierstufige Konzept der digitalen Inklusion als strategisches Ziel folgendermaßen formuliert:

Wir schaffen für alle Menschen in München Zugänge zu Technologie, digitalen Inhalten, anwendbarem Wissen und digitalen Kompetenzen. So ermöglichen wir Teilhabe an digitaler Kultur und demokratischer Gesellschaft.

In diesem Ziel scheinen wieder die eingangs formulierten Herausforderungen des digitalen Wandels für die Gesellschaft durch. Gerade weil diese Herausforderungen auch sehr konkrete Herausforderungen für die öffentliche Bibliothek darstellen, soll der folgende Abschnitt untersuchen, warum die öffentliche Bibliothek vielleicht in einer besonderen Position ist, relevante Antworten zu finden und einen wirksamen Beitrag zum Bewältigen dieser Herausforderungen zu leisten.

Soziale Räume für kompetente Communitys

Mit einer strategischen Ausrichtung auf (i) Offenheit als Haltung und (ii) gesellschaftliche Teilhabe durch digitale Inklusion können die vier oben formulierten Fragen an die öffentliche Bibliothek mit folgenden Aufträgen beantwortet werden:

  1. Um das Raumangebot für die Stadtgesellschaft zu verbessern und auszuweiten, sollen Bibliotheksbauten mit bester Aufenthaltsqualität zum Verweilen am sogenannten und viel zitierten dritten Ort einladen: Neben ruhigen Lesezonen sind Bereiche für Begegnung und Austausch nötig. Die Bibliothek wird gleichermaßen Ort zum Arbeiten und zum Spielen. Gut beleuchtete Schreibtische, PCs mit aktueller Bürosoftware, Drucker, Scanner und schnelles WLAN sind die Voraussetzung dafür – neben Videokonsolen und Spieletablets. Eine Kaffeeküche und Versorgungsmöglichkeiten für Kleinkinder ergänzen das Angebot. Neue Servicekonzepte und smarte Technik ermöglichen die Ausweitung der Öffnungszeiten, damit die Bibliothek auch in den Abendstunden genutzt werden kann.
  2. Um einen wirksamen Rahmen für Diversität und Inklusion zu schaffen, sollen physische und virtuelle Bibliotheksräume in ihrer Ausgestaltung die Vielfalt der Nutzer*innen widerspiegeln. Dieser Anspruch soll sich einerseits in inklusiver Kommunikation, einem diversen Medienbestand und rassismuskritischer Veranstaltungsarbeit ausdrücken, andererseits im barrierefreien Bauen, im inklusiven Screendesign sowie in niedrigschwelligen technischen bzw. digitalen Serviceangeboten.
  3. Um dem veränderten Wissensbegriff und einem neuen Informationsbedarf gerecht zu werden, muss die öffentliche Bibliothek Angebote zur Förderung verschiedenster Kompetenzen schaffen und dadurch wirksam Zugang zu echtem Wissen ermöglichen. Mit der Förderung von Navigationskompetenzen sollen die Nutzer*innen dabei unterstützt werden, das überbordende Informationsangebot zu sortieren und zu bewerten. Rechercheschulungen zielen beispielsweise auf das kompetente Suchen, Auswählen, Verstehen und Beurteilen von Inhalten ab (damit sowohl auf die kognitive Dimension als auch auf die praktische Anwendung). In Sprechstundenformaten können Bibliotheksnutzer*innen konkrete Fragen zur Einrichtung und Benutzung ihrer technischen Geräte stellen (beispielsweise zur Handhabung eigener E-Book-Reader).
  4. Um der digitalen Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken, muss die öffentliche Bibliothek Möglichkeiten und Anlässe für die handlungsorientierte Aneignung angewandten Wissens und die Erprobung digitaler Kulturtechniken schaffen. Recording-Workshops im Tonstudio zum Beispiel ermutigen dazu, selbst kreativ zu werden und sich musikalisch auszudrücken. In Gaming-Events werden die Kommunikation im Virtuellen sowie das kooperative Problemlösen erprobt und so die soziale Interaktion spielerisch gefördert. [4] Die Bibliothek bietet dabei nicht nur den Raum (physisch oder virtuell), sondern ermöglicht die Begegnung und begleitet den Prozess. In den (digitalen) Ergebnissen (z. B. eigenen Musikaufnahmen) steckt besonderes Potenzial: Mit neuem Blick auf Bestand und Themen der Bibliothek können sie die Sammlung auf interessante Art und Weise anreichern und dadurch den Communitygedanken stärken. Das handlungsorientierte schöpferische und kritische Umgehen mit dem Informationsangebot der Bibliothek schärft nicht zuletzt das eigene Bewusstsein in der Beurteilung von digitalen Medien und Informationssystemen.

Aus diesen Aufträgen lässt sich das sich wandelnde Selbstverständnis der öffentlichen Bibliothek ablesen: Ziel der Öffnung und inklusiven Ausgestaltung von Lern-, Inspirations-, Kreativ- und Begegnungsräumen ist das Schaffen eines Befähigungsraums für digital kompetente Communitys. Aber welches sind die besonderen Qualitäten und Potenziale der öffentlichen Bibliothek als Ermöglicherin solcher Communitys, als promoter oder sogar als guarantor? [5]

  • Lokale Präsenz: Durch die physische Präsenz im Quartier schafft die öffentliche Bibliothek niedrigschwellige Begegnungsangebote. In der Möglichkeit der Begegnung steckt vielfältiges Potenzial: Die Bibliothek sieht sich als Ort für alle, an dem unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammenkommen und (in einem demokratischen Rahmen) verschiedene Perspektiven auf unsere Gesellschaft entwickeln und verhandeln können. [6] Begegnung als soziale Interaktion kann darüber hinaus als Vorbedingung für den Erwerb vieler Kompetenzen verstanden werden, beispielsweise im Perspektivenwechsel für die Aneignung von Wissen oder im grundlegenden Aushandeln eines gemeinsamen Kompetenzrahmens. [7]
  • Lokale Relevanz: Durch die Nähe zur Stadtgesellschaft kann die öffentliche Bibliothek Impulse für einen Diskurs mit direktem Bezug zur Lebenswirklichkeit der Bibliotheksnutzer*innen schaffen. Beispielsweise werden lokale Themen in der Veranstaltungsarbeit aufgegriffen, lokale Communitys erhalten Raum für eigene Themen, und aktuell relevante Inhalte spiegeln sich im sorgfältig kuratierten Bestandsangebot wider.
  • Zugänglichkeit: Die öffentliche Bibliothek ist in einer speziellen Position, im Sinne des vierstufigen Konzepts digitaler Inklusion Barrieren zu reduzieren und Zugangsgerechtigkeit zu fördern. Technik und digitale Inhalte stehen kostengünstig (oder sogar kostenfrei) zur Verfügung. Wer Anleitung benötigt, findet in verschiedensten Angeboten Unterstützung – beispielsweise in persönlicher Hilfestellung, digitalen Tutorials, Fachliteratur, Workshops etc. Dass die Bibliothek als verlässliche Wissensquelle gesehen wird, ist dabei auch wertvolle Vertrauensbasis für die Förderung digitaler Kompetenzen.
  • Nonformaler Rahmen: Eine Stärke des Lernorts öffentliche Bibliothek ist, dass Kompetenzaneignung freiwillig und interessengesteuert, handlungsorientiert und spielerisch, partizipativ und ohne Leistungsdruck geschehen kann. In der Formulierung des eigenen Anspruchs, Schule für Demokratie zu sein, drückt die öffentliche Bibliothek gerade das Ziel aus, Lebensfertigkeiten zu vermitteln und als Partnerin formaler Bildungsinstitutionen Lernende auch auf ihre Rolle als aktive Bürger*innen vorzubereiten.
  • Persönliche Verbindung: In Offenheit als gelebter Haltung steckt vertrauensstiftendes Identifikationspotenzial. Verschiedene Beteiligungsformate beispielsweise bieten den Nutzer*innen die Möglichkeit, ihre Bibliothek mitzugestalten und weiterzuentwickeln. Auch die digitale Öffnung bislang unzugänglicher Archivmaterialien aus der eigenen Stadtgeschichte (im Sinne von Open Data bzw. Open Content) kann neue Bezugspunkte für lokale Communitys schaffen. [8] Nicht zuletzt ist die „Bibliothek ums Eck“ Teil der Nachbarschaft und gehört dem Quartier.

Wo ein solches Bild von niedrigschwellig zugänglichen und einladenden Begegnungsorten realisiert wird, kann – als wirksamer Beitrag zur Bewältigung der momentanen, tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse – echter Befähigungsraum für digital kompetente Communitys entstehen. Die öffentliche Bibliothek stellt dabei eine große Chance dar: Als Ort für alle ermöglicht sie uns Bürger*innen, den gesellschaftlichen Wandel reflektiert mitzugehen und gemeinsam aktiv mitzugestalten.

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Anmerkungen und Quellen

  1. Vgl. Jochumsen, Rasmussen, Skot-Hansen (2012) sowie Thorhauge (2014).
  2. Vgl. Bertot et al. (2015), S. 19.
  3. Vgl. dazu Digitales Deutschland (2020), S. 4 ff.
  4. Siehe zu den speziellen Potenzialen des Gamings für die Stärkung von Medienkompetenzen und für die Förderung (digitaler) Inklusion auch Fink-Gaudernak, Poellinger, Post (2020).
  5. Vgl. das obige Zitat aus Bertot et al. (2015), S. 19.
  6. Das Verhältnis von Begegnung und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist Gegenstand der Studie von Wohlfeld und Krause (2021), in der auch die Nutzung von Bibliotheken durch verschiedene gesellschaftliche Typen (von den Offenen über die Etablierten bis zu den Wütenden) untersucht wird.
  7. Vgl. dazu die vierte Prämisse zur Betrachtung von Kompetenz im Rahmenkonzept „Digitales Deutschland“ (2020), S. 9: „Kompetenz wird in (sozialen) Interaktionen erworben“.
  8. Beispiele für die digitale Öffnung kulturhistorisch bedeutender Archivmaterialien bei der Münchner Stadtbibliothek sind die Digitalisierung und Bereitstellung von Nachlässen der Familie Mann durch das Literaturarchiv der Monacensia (www.monacensia-digital.de) und die digitale Veröffentlichung von Reger-Handschriften durch die Musikbibliothek im bavarikon (www.bavarikon.de).
  9. Jochumsen, Henrik; Rasmussen, Casper Hvenegaard; Skot-Hansen, Dorte: The four spaces – a new model for the public library. New Library World 113, 2012, S. 586–597
  10. Thorhauge, Jens: Ein breites Spektrum – Das Konzept für die moderne Bibliothek in Deutschland und Dänemark. In: BuB – Forum Bibliothek und Information, 2014, S. 32–35
  11. Bertot, John Carlo; Real, Brian; Lee, Jean; McDermott, Abigail J.; Jaeger, Paul T.: 2014 digital inclusion survey: Survey findings and results. College Park, MD: Information Policy & Access Center, College of Information Studies, University of Maryland, 2015
  12. Brande, L.; Carretero, S.; Vuorikari, R. et al.: DigComp 2.0 – The digital competence framework for citizens. European Commission, Joint Research Centre, 2016, DOI: 10.2791/11517
  13. Digitales Deutschland. Rahmenkonzept. München: JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, 2020
  14. Fink-Gaudernak, Karina; Poellinger, Roland; Post, Mareike: Bibliotheksraum und Medienpädagogik. In: Beranek, Angelika; Ring, Sebastian; Schuegraf, Martina (Hrsg.): Zwischen Utopie und Dystopie. Medienpädagogische Perspektiven für die digitale Gesellschaft. München: kopaed, 2020, S. 145–149. Schriften zur Medienpädagogik; 56, DOI: 10.25656/01:22665
  15. Wohlfeld, Sarah; Krause, Laura-Kristine: Begegnung und Zusammenhalt: Wo und wie Zivilgesellschaft wirken kann. Berlin: More in Common e. V., 2021
  16. Vernetzte Daten/offene Räume. Die Digitale Strategie der Münchner Stadtbibliothek. München: Münchner Stadtbibliothek, 2022

Zitationsvorschlag

Poellinger R. 2023: Von der Informations- zur Kompetenzplattform. Die öffentliche Bibliothek als Befähigungsraum für digital kompetente Communitys. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/ki-expertisen/oeffentliche-bibliotheken