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„Personas können dazu beitragen, eine inklusivere Gesellschaft zu gestalten.“

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„Personas können dazu beitragen, eine inklusivere Gesellschaft zu gestalten.“

Als Integrationsbeauftragte hat Anne Kathrin Müller zehn Jahre die Arbeit der Stadt Ludwigsburg mitgestaltet. Im Interview mit Prof. Dr. Anja-HartungGriemberg (AHG) und Dr. Cornelia Bogen (CB) berichtet sie über ihre Erfahrungen in der Entwicklung und im Einsatz von Personas in der kommunalen Integrationsarbeit. 

AHG: Bevor wir tiefer in die Materie einsteigen: Wie würden Sie Personas allen Leser*innen unseres Magazins beschreiben, die bislang noch nichts davon gehört haben 

AKM: Personas sind fiktive, also ausgedachte Personen, die einen starken Bezug zu realen Personen haben, indem sie auf reale Eigenschaften hinweisen und reale Eigenschaften und Verhaltensweisen wiedergeben. Diese Eigenschaften sind immer nur ein Ausschnitt und beschreiben nicht die gesamte Person, sondern beziehen sich auf das Thema, für das die Personas entwickelt werden. Personas sind nicht als Wertung oder Bewertung von Eigenschaften und Verhaltensweisen oder gar Kompetenzen zu verstehen. Sie können aber dabei helfen, mehr reale Personen durch eine passgerechtere Ansprache zu erreichen. Damit können z. B. mehr Leute erreicht werden, wenn es um die Beteiligung an politischen Prozessen geht. Auch bei der Adressierung von Bildungsangeboten zum Kompetenzerwerb können Personas hilfreich sein.  

 

AHG: Da sprechen Sie einen sehr wichtigen Punkt an. Personas werden ja in der Regel eher mit Marketing und Konsum in Verbindung gebracht, weniger mit Bildung und Inklusion. Wie sind Sie in Ihrem Arbeitskontext auf die Idee gekommen, Personas zu verwenden? 

AKM: Wir haben uns das seinerzeit in Zusammenarbeit mit unserer Pressestelle überlegt. Es gab eine neue Webseite bei der Stadt und Hinweise darauf, dass sich nicht alle Personen auf dieser Website wiedergefunden haben. Vor diesem Hintergrund hat der Integrationsrat das Anliegen geäußert, nicht nur mehr Menschen mit Migrationsbiografie, sondern mehr Vielfalt insgesamt auf der Homepage sichtbar zu machen. Wir haben dann gemeinsam mit unserem Presseamt überlegt, wie wir die neuen Seiten gestalten können und mit welchen Kanälen wir dabei arbeiten. Ziel war auch, mehr Menschen über unsere Angebote zu informieren und für eine ehrenamtliche Zusammenarbeit mit der Stadt Ludwigsburg zu gewinnen. Unsere Pressestelle hatte schon mit Personas gearbeitet. Also haben wir gesagt, wir probieren das aus und nehmen diese Methode auch im Bereich Integration auf.  

CB: Wie hat das dann konkret ausgesehen? Wie sind Sie methodisch vorgegangen?  

AKM: Wir haben uns zunächst im kleinen Team meiner Mitarbeiter*innen überlegt, welche Personen wir kennen. Diesen Personenkreis haben wir nach charakteristischen Eigenschaften wie Alter, Geschlecht, Sprachniveau oder Ausbildungsstand geclustert und dabei geschaut, wer von unseren Angeboten erreicht wird und wer nicht. Wichtig war auch der Grad der Vernetzung mit Menschen, die wir schon erreichen. Menschen die (noch) wenig Deutsch können, aber z. B. in Sprachschulen, Vereinen, Gemeinden sind oder über Familie, Ehrenamt und Freunde Kontakt mit Menschen haben, können wir anders erreichen als Menschen, die noch nicht in der Stadt vernetzt sind. Auf diese Weise haben wir unsere Personas entwickelt und dann in einer Arbeitsgruppe diskutiert. Das waren Mitglieder aus dem Integrationsrat, aber auch Vertreter*innen unserer Vereine und Gemeinden. Denn das sind ganz wichtige Türöffner*innen zu Bevölkerungsgruppen, die wir so häufig nicht sehen. Und sie haben uns gesagt, wo sie noch Lücken sehen. Auf dieser Grundlage haben wir unsere Personas ergänzt und schließlich mehr Personas erstellt, als man das so üblicherweise macht. Wir wollten von einer ganz starken Vereinfachung hin zu einer größeren Differenzierung, weil das auch unserem Integrationsrat sehr wichtig war, um eben nicht Klischees zu reproduzieren. 

AHG: Das war ja ein Entwicklungsprozess, an dem eine große Vielzahl und Vielfalt an Perspektiven beteiligt war. Das war sicher nicht einfach. Jede*r hat noch weitere Lebenskontexte vor Augen, jede*r hat noch weitere Differenzierungen im Kopf. Wie sind Sie mit diesen Herausforderungen umgegangen 

AKM: Ja, das war tatsächlich eine Herausforderung. Einerseits plädieren wir immer für eine maximale Differenzierung und dann bestätigen wir in gewisser Weise Klischees, indem wir die Lebensentwürfe und Lebensrealitäten verschiedener realer Personen in eine Persona packen und nicht mehr jede Differenz und jede Ausprägung von Vielfalt darstellen. Wir haben das auch lange in unserer Arbeitsgruppe diskutiert. Wir sind dann aber darin übereingekommen, dass wir ja schlussendlich nicht Lebenswelten im Ganzen abbilden, sondern nur eine gemeinsame Schnittmengenperspektive, also einen Metakontext. Und dieser Metakontext war für uns die Sprachkompetenz und damit zusammenhängend die Mediennutzung unserer Zielgruppen. Das, was diese enorme Vielfalt vereint hat, war eben, dass ihre Repräsentant*innen unterschiedlich viel und gut Deutsch sprechen. Und das war für uns der zentrale Punkt. Denn für uns ist es wichtig, darauf zu schauen, was die Sprachkompetenz für unsere Kommunikation, die Nutzung unserer Website und die Wahrnehmung unserer Angebote bedeutet. Wie können wir unser Angebot über welche Informationen, über welche Veranstaltungen und Projekte und über welche Gatekeeper an die Menschen bringen? Wo halten sich z. B. Ältere mit geringen Deutschkenntnissen auf? In welchen Quartieren, an welchen Orten müssen wir beispielsweise Poster aufhängen oder Flyer auslegen, um unsere Angebote zu bewerben?  

CB: Wie haben Sie die Personas dann in der Praxis genutzt? 

AKM: Der Anstoß zur Persona-Entwicklung war unsere Website. Da schien es etwas zu geben, womit wir Menschen nicht repräsentiert und erreicht haben. Das haben wir zum Anlass genommen, unsere Kommunikation im Ganzen noch einmal zu überdenken und zu verändern. Die Personas haben wir entwickelt, um herauszufinden, wen wir erreichen und wen nicht. Das war während der Coronapandemie plötzlich eine sehr große Herausforderung. In dieser Krisensituation haben wir natürlich auch überlegt, wie wir die Menschen erreichen können. Wir haben angefangen, in diversen Lebensmittelgeschäften mit Symbolen und verschiedenen Sprachen auf Plakaten zu arbeiten. Wir haben in verschiedenen Sprachen Durchsagen auf dem Marktplatz gemacht. Zudem haben wir intensiv ausgewertet: Welche Vereine gibt es in diesem Gebiet? Welche Sprachen werden in dem Quartier gesprochen? Was können uns Quartiersbeauftragte und andere Gatekeeper*innen dazu sagen? Wie lange sind die Menschen in Ludwigsburg und welche Staatsangehörigkeit haben sie? Welche Sprachen werden in diesen Staaten gesprochen? So konnten wir die Informationen in verschiedene Sprachen übersetzen. Das heißt, die Personas waren da gar nicht mehr allein auf die Website fokussiert. Wir mussten einfach immer wieder unter neuen Bedingungen wissen, welche Menschen in unserer Stadt leben, die wir mit unseren Informationen aus verschiedenen Gründen (Mediennutzung, Grad der Vernetzung oder Deutschkenntnisse) noch nicht erreichen. Und dabei waren die Personas ein sehr wertvolles Werkzeug.  

CB: Ich greife mal den Werkzeugbegriff auf und komme zurück zur Entwicklung der Personas. Damit wir Personas als Werkzeuge nutzen können, müssen wir notwendigerweise vereinfachen und viele Facetten ausblenden. Wie sind Sie mit diesen Differenzverlusten umgegangen? 

AKM: Darüber haben wir natürlich auch intensiv und lange diskutiert. Hilfreich war es immer, uns zu vergegenwärtigen, dass es nicht darum geht, repräsentativ für alles zu sein, also in einer Persona 20 Prozent der deutschen Bevölkerung im Ganzen abzudecken. Die Personas sollten repräsentativ sein für eine bislang für uns noch schwer zu erreichende Gruppe in Hinblick auf eine spezifische Alltagsanforderung. Was ist das ausschlaggebende Kriterium dafür, dass diese Gruppe bislang so schwer zu erreichen ist? Ist es wirklich wichtig, ob jemand als ukrainischer Kriegsflüchtling gekommen ist oder als Gastarbeiter, wenn beide Personen vereint, dass sie vielleicht keinen oder einen beschränkten Internetzugang und noch keine deutsche Sprachkompetenz haben? Wir haben immer wieder versucht, uns zu fokussieren auf das, was die höchst unterschiedlichen Perspektiven und Lebensrealitäten vereint. Deshalb haben wir uns in der Arbeitsgruppe immer wieder gefragt: Wer ist da noch mit drin? Wem geht es genauso? Und diese gemeinsame Perspektive umfasste in unserem Fall maßgeblich die Aspekte Mediennutzung, Vernetzung und Sprachkompetenz – aber auch den Stellenwert der „dritten Orte“ wie Bibliotheken, Jugend- und Seniorenzentren, Vereine usw. Die dritten Orte waren zum Beispiel während der Coronapandemie sehr eingeschränkt. Und da hat sich natürlich die Frage gestellt, wen erreichen wir jetzt eigentlich noch wo? Wie sind die Leute vernetzt? Nehmen wir das Beispiel von Gastarbeiter*innen, die zwar schon lange hier sind, aber über wenig Sprachkompetenz in Deutsch verfügen. Sie haben in der Regel Kinder, Enkelkinder und Nachbarn. Selbst wenn sie keine eigene Familie haben, haben sie Nachbarn und kennen meist Leute, die mehrsprachig sind und vom Deutschen übersetzen oder Informationen erklären können. Sie haben also in der Regel ein Netz, das ihnen hilft, Informationen zu bekommen und zu übersetzen. Unsere Aufgabe ist es, dieses Netz zu erreichen, wenn wir Informationen auf Deutsch verteilen. Und in manchen Fällen kann es sinnvoll sein, diese Informationen in der entsprechenden Sprache zur Verfügung zu stellen, damit sie sich selbst orientieren können. Ein anderes Beispiel: Wir hatten ein neues Projekt für neu zugewanderte Personen. Wir sind sonntags mit unserer Dolmetscherin in den Gottesdienst der polnischsprachigen, der kroatischsprachigen und der italienischsprachigen Gemeinde gegangen, weil wir wussten, dass diese dritten Orte gut besucht sind und wir dort die Menschen erreichen, für die unsere Informationen wichtig sein können. In der Coronapandemie haben wir in Geschäften Werbung für unsere Impfaktionen mit dem Dolmetscherdienst gemacht, weil die Geschäfte offen waren. Das heißt, wir haben immer wieder geschaut, wo wir gerade stehen und was wir erreichen wollen. Welche Personas müssen wir uns besonders anschauen? Wo haben wir eine Art vulnerable Gruppe, die wir nicht erreichen? Wie erreichen wir diese Gruppe an welchem Ort?  

 

AHG: Man kann sich Personas also vorstellen wie einen Pool an prototypischen Lebenskonstellationen, auf die man je nach Zielperspektive und Handlungsanforderung zurückgreift, um mit diesen Informationen adäquate Angebote zu gestalten? 

AKM: Ja, das kann man so sagen. Und wir haben diesen Pool an Personen auch aus einem speziellen Handlungskontext entwickelt, nämlich mit dem Ziel, mit dem Kommunikationsmedium einer Website bislang unerreichte Gruppen zu erreichen. Wir haben nicht versucht, die komplette migrantische Bevölkerung abzubilden. Und ich denke, es ist ganz wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass Personas keine Bewertung beinhalten. Es ist keine Bewertung einer Person oder Personengruppe, die besser oder schlechter Deutsch kann. Darum geht es nicht und eine Bewertung dieser Art ist weder angebracht noch zielführend. Es geht darum, anhand von Lebenssituationen, Eigenschaften oder z. B. dem Medienverhalten und dem Grad der Vernetzung einen Überblick darüber zu gewinnen, wie wir den Wirkungskreis unserer Arbeit vergrößern können. Und dabei greifen wir auf einen großen Datenpool zurück, den wir mit Expert*innen aus dem Feld und deren Erfahrungswissen abgleichen und anreichern. 

CB: Wenn Sie jetzt noch mal Ihre Erfahrungen Revue passieren lassen: Welche Impulse bzw. Hinweise würden Sie an Kolleg*innen weitergeben, die planen, mit Personas zu arbeiten? Worauf sollte man besonders achten?  

AKM: Man sollte unbedingt darauf achten, Personas mit Menschen zu entwickeln, die verschiedene Blickwinkel und Perspektiven kennen und vertreten und die eigenen Blickwinkel auf die Personas nicht nur abnicken, sondern im besten Fall ergänzen und hinterfragen. Damit die Methode wirklich eine Wirkung entfalten kann, ist es wichtig, Expert*innen aus dem Feld einzubeziehen, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbringen. Wenn das gelingt, können Personas aus meiner Sicht und aus meiner Erfahrung durchaus dazu beitragen, in vielen kleinen Lebenszusammenhängen eine inklusivere Gesellschaft im Ganzen zu gestalten. 

Zitation

Hartung-Griemberg, A., Bogen, C. 2024: „Personas können dazu beitragen, eine inklusivere Gesellschaft zu gestalten.“. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/transfer/personas-koennen-dazu-beitragen-eine-inklusivere-gesellschaft-zu-gestalten/

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