Die Mediatisierung des Wissens – Eine Dispositivanalyse zur Rolle der Medienkompetenz

Kurzbeschreibung

Die Bedingungen der Generierung und Aneignung von Wissen haben sich im Zuge der Digitalisierung grundlegend verändert. Aus medienpädagogischer Sicht geht mit diesen Veränderungen auch die Frage nach einer Anpassung oder Erweiterung des Medienkompetenzbegriffs einher. Der Autor beschäftigt sich mit der Frage danach, ob der Medienkompetenzbegriff angepasst werden muss, um den veränderten Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbedingungen sowie Strukturen, in denen sich Wissen in digitalen Medienumgebungen formiert, gerecht zu werden. Welche Kompetenzen brauchen Individuen bei der Aneignung digitalisierten Wissens? Der Autor verwendet das Dispositiv im Sinne einer Wahrnehmungsanordnung. Damit geht eine medienspezifische Betrachtung einher, welche die Ausdifferenzierung des Medienkompetenzbegriffs an ein spezifisches Medium – in diesem Fall die Plattform Wikipedia – bindet. Der Verfasser nutzt die Mediatisierung als metatheoretische Rahmung der Arbeit. Er verknüpft diese Perspektive mit einer theoretischen wie auch methodischen Anwendung des Dispositivs als Medienbegriff und differenziert die Medienkompetenzdimensionen nach Dieter Baacke aus, um sie für den Bereich mediatisierten bzw. digitalisierten Wissens nutzbar zu machen.

Annahmen über die Folgen der Digitalisierung

Die Bedingungen der Generierung und Aneignung von Wissen haben sich im Zuge der Digitalisierung grundlegend verändert. Neue bzw. angepasste Kompetenzen sind für den kompetenten Umgang mit diesen digitalisierten Wissensformationen notwendig.

Kompetenzanforderungen

Der Autor transferiert die vier Medienkompetenzdimensionen von Dieter Baacke (Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung) mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand kollaborativer, dynamischer digitalisierter Wissensformierungen am Beispiel von Wikipedia und dekliniert umfassend aus, welche Kompetenzen das Individum konkret im Umgang mit diesen digitalisierten Wissensformierungen benötigt. An dieser Stelle können nur einige Kompetenzanforderungen beispielhaft herausgegriffen werden: die eigenen Benutzerrechte in der Struktur der Wikipedia erkennen und reflektieren, Funktion und Aufgaben verschiedener Ansprechpartner*innen in der Wikipedia verstehen, Hilfestellungen (z. B. Mentorenprogramm, Lehrbuch, Starthilfe, FAQs, Diskussionsforen) in Anspruch nehmen, technische Features oder Software der Wikipedia weiterentwickeln.

Kompetenzdimensionen

Instrumentell-qualifikatorische Dimension: Wissen, wie die technischen Funktionen der kollaborativen Wissensgenerierung und -prozessierung anzuwenden sind (z.B. Beiträge generieren); durch Wikipedia navigieren können, um an kollaborativen Handlungsmöglichkeiten zu partizipieren; wissen, wie technische Funktionen der expertokratischen Wissensformierung anzuwenden sind und wie man durch Wikipedia navigieren kann, um an professionalisierten Handlungsmöglichkeiten zu partizipieren (z.B. gesuchte Ansprechpartner*innen auffinden); Wissen, wie die technischen Wissensformierungen zur Wissensgenerierung und -prozessierung anzuwenden sind und wie man durch Wikipedia navigieren kann, um organisationale und technische Handlungsbedingungen einzusehen (z.B. Wissen, wie ein Benutzerkonto anzulegen ist); eigene Medienkunde praktisch umsetzen, um an rezeptiv-kollaborativen/rezeptiv-expertokratischen Handlungsmöglichkeiten zu partizipieren (z.B. Wikipedia als Zugang zu Informationen nutzen; Hilfestellungen wie Diskussionsforen in Anspruch nehmen); eigene Medienkunde umsetzen, um rezeptiv an oligarchisch-technokratischen Handlungsmöglichkeiten zu partizipieren (z.B. Bots benutzen).

Kognitive Dimension: Wissen darüber, wie Wissen innerhalb von Wikipedia formiert wird; erkennen, dass auf Wikipedia eine Verknüpfung zwischen Kollaboration und Meritokratie besteht, z.B. kollektive Autor*innenschaft erkennen; das Zusammenspiel von expertokratischen Elementen (z.B. gruppenspezifisches Wissen) mit und in Formen der Professionalisierung (z.B. etablierten Kontrollmechanismen wie einer Benutzerhierarchie) erkennen; Aspekte und Anwendungen von kollaborativen und meritokratischen Wissensformierungen auf Wikipedia kennen und den Zweck, die Einsatzmöglichkeiten und Durchführung verstehen (z.B. Benutzerrechte kennen und verstehen, wie man erweiterte Benutzerrechte erlangt); expertokratische und professionalisierte/organisationale und technische Wissensformierungen der Wikipedia kennen und den Zweck und die Erscheinungsformen verstehen (z.B. Hilfestellungen oder Datenschutzrichtlinien kennen oder Qualitätskriterien der Wikipedia verstehen); den Zweck, das Entstehen und den Zusammenhang oligarchischer und technokratischer Wissensformierungen verstehen (z.B. verstehen, wie Richtlinien entstehen).

Kreative Dimension: Beiträge und Wissen generieren; Themensetzung; eigene Medienkunde anwenden, um oligarchisch-technokratische/interaktiv-kollaborative Handlungsmöglichkeiten umzusetzen (z.B. neue Bots oder Diskussionsbeiträge erstellen); innerhalb der Logik der kollaborativ-meritokratischen, expertokratisch-professionalisierten und oligarchisch-technokratischen Wissensformierung bestehende Elemente weiterentwickeln (z.B. neue Formen der kollaborativen Zusammenarbeit schaffen, eine inhaltliche Struktur oder technische Features weiterentwickeln); eigene inhaltliche oder technische Medienangebote schaffen, die über gängige Handlungsmöglichkeiten und -praktiken einer der drei Wissensformierungen hinausgehen; bestehende Elemente entgegen der Logik einer Wissensformierung verändern oder neue Elemente schaffen (z.B. ein eigenes Wiki entgegen Wissensformierungen erstellen, neue Personalisierungsmöglichkeiten erstellen, bestehende Strukturen durch eine Erweiterung von gemeinschaftlichen Entscheidungen auflösen).

Soziale Dimension: eigene Medienkunde praktisch anwenden, um interaktiv-expertokratische/interaktiv-kollaborative Handlungsmöglichkeiten umzusetzen (z.B. Rollen in Vergemeinschaftungen übernehmen; mit anderen Autor*innen kommunizieren).

Kritisch-reflexive Dimension: Analytische Medienkritik; Zusammenhänge zwischen kollaborativen und meritokratischen Wissensformierungen erkennen; alle Kompetenzaspekte erkennen und miteinander in Beziehung setzen; expertokratische und professionalisierte/oligarchisch-technokratische Wissensformierungen erkennen und unterscheiden; den Machteinfluss von oligarchischen Strukturen allgemein und spezifisch auf technische Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen (z.B. Einflussnahme der Wikimedia Foundation) erkennen; die eigene Rolle in der kollaborativ-meritokratischen Struktur reflektieren (z.B. eigene Handlungsmöglichkeiten und -bedingungen erkennen); eigene Fähigkeiten im Rahmen der expertokratischen Struktur einschätzen; die Befolgung von professionalisierten Konventionen (z.B. von Konventionen und Richtlinien der Wikipedia) hinterfragen; die eigene Rolle bezüglich oligarchischer Strukturen innerhalb der Wikipedia sowie die Nutzung technischer Features auf Grundlage ihres Ursprungs und Zwecks reflektieren (z.B. Verlustkontrolle über eigene Daten erkennen); die Rolle der kollaborativen und meritokratischen Elemente bei der Formierung digitalisierten Wissens bezüglich von Werten beurteilen (z.B. Gruppendynamiken bewerten); expertokratische und professionalisierte Formierung digitalisierten Wissens bezüglich der Konsequenzen für eine ursprünglich freie und niedrigschwellige Wissensplattform beurteilen (z.B. die Bedeutung von Aufstiegsmöglichkeiten für das Handeln auf Wikipedia bewerten); den Machteinfluss von Wenigen auf digitalisiertes Wissen bezüglich von Werten und Konzepten beurteilen (z.B. Abhängigkeit der Wikipedia von Großspendern beurteilen).

Zentrale theoretische Annahmen über Kompetenz

Den zentralen Bezugspunkt der Dissertation bildet die Definition von Medienkompetenz durch Dieter Baacke. Zunächst skizziert der Autor die Entstehungs dieses Kompetenzbegriffs, über seine Anfänge bei Chomsky und Habermas hin zu Dieter Baacke. Dort wird Medienkompetenz als normatives Konstrukt verstanden und beschreibt Fähigkeiten, situations- und medienübergreifend zu handeln. Kompetenz ist damit zugleich Voraussetzung als auch Ziel. Zusammenfassend wird Medienkompetenz im deutschsprachigen Raum also als subjektzentriert, idealistisch, normativ und universell definiert. Der Autor argumentiert jedoch aufgrund verschiedener Kritikpunkte an diesem Konzept (darunter Mängel am theoretischen Fundament, eine empirische Leere, Heterogenität und fehlender Medienspezifik) für eine Ausdifferenzierung des Medienkompetenzmodells. Er transferiert daher die Medienkompetenzdimensionen nach Dieter Baacke auf den Bereich der Aneignung mediatisierten respektive digitalisierten Wissens am Beispiel von Wikipedia.

Perspektive der Kompetenzträger*innen auf Kompetenz einbezogen?

keine Angabe

Lebenskontexte der Kompetenzträger*innen einbezogen?

Subjektive, situative oder soziale Kontexte bleiben unbearbeitet. Allein die medienspezifischen Aspekte werden bearbeitet und daraus Kompetenzen abgeleitet.

Herausforderungen der Erfassung von Kompetenz

Der Autor problematisiert detailliert die Herausforderung, die in der Anpassung und dem Transfer bestehender Medienkompetenzdimensionen auf mediatisiertes bzw. digitalisiertes Wissen besteht.

Quellenangabe

Gemkow, J. (2021). Medienkompetenz und die Mediatisierung des Wissens. Springer VS.

Sonstige Anmerkungen

Die Ausdifferenzierung der Medienkompetenzdimensionen nach Dieter Baacke kann für empirische Analysen als Ausgangspunkt für eine Operationalisierung von Medienkompetenz in Bezug auf digitalisiertes Wissen genutzt werden.

Zuletzt geändert am 18. Dezember 2023.