KI als „Wunscherfüller“? – Kompetenzen von Kindern im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen – Qualitative Studie im Rahmen von „Digitales Deutschland“
Kurzbeschreibung
Die qualitative Studie betrachtet die Kompetenzen von Kindern zwischen acht und elf Jahren im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen bei YouTube und TikTok. Diese Systeme stellen sowohl Kinder als auch ihre Eltern vor komplexe Herausforderungen. Kinder beginnen zu begreifen, wie die Plattformen ihre Vorlieben ermitteln. Zudem müssen sie herausfinden, welche Strategien im Umgang mit unerwünschten oder gar ungeeigneten vorgeschlagenen Inhalten für sie funktionieren. Eltern begleiten ihre Kinder dabei. Sie müssen sich mit Fragen wie der Begrenzung der Bildschirmzeit ihrer Kinder, Datenschutz oder personalisierter Werbung auseinandersetzen. In diesen Aushandlungsprozessen sind auch die elterlichen Vorstellungen von Empfehlungssystemen relevant und welche Erwartungen sie an diese haben. Die Studie zeigt auf, was Kinder im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen bereits können und wobei sie und ihre Eltern Unterstützung brauchen. Es wurden neue Ansatzpunkte für die Kompetenzförderung von Kindern und Eltern im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen herausgearbeitet. Hierzu wurden zwölf Kinder und ihre Eltern befragt.
Annahmen über die Folgen der Digitalisierung
Kinder wachsen in Deutschland in einer Gesellschaft auf, in der digitale Medien und Künstliche Intelligenz (KI) eine immer größere Bedeutung erhalten. Dabei sind zwei Dynamiken eng miteinander verbunden. Erstens: Die Dynamik der sich im Rahmen medial-technischer Wandlungsprozesse (etwa Digitalisierung, Konvergenz) verändernden Mediendienste und Medienangebote. Zweitens: Die Dynamik der sich dynamisch vollziehenden Entwicklung von Heranwachsenden. Mit dem Grundschulalter nimmt der eigenständigen Mediengebrauch deutlich zu. Angebote wie YouTube und TikTok werden fester Bestandteil des Alltags vieler Kinder, wodurch algorithmische Empfehlungssystemen für Online-Inhalte (AES) im Alltagsleben von Kindern präsent werden. "Für Kinder wird potenziell erlebbar, was dem Leben und Handeln im Zuge des digitalen Wandels immanent ist: Menschen und Objekte sind potenziell jederzeit online, erzeugen Daten und werden ausgewertet, digitale Medien sind von Geburt an Teil des Familienalltags und integraler Bestandteil der Kinder- und Jugendkulturen, des Freizeitsektors und der Konsumwelt sowie der Bildungsinstitutionen." Damit verbunden sind Anforderungen, das eigene Leben mit diesen digitalen Medien und Systemen (möglichst) selbstbestimmt zu gestalten und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu erlangen. Bereits Kinder sollen digitale Technologien in diesem Sinne zum eigenen Wohl und zum Gemeinwohl beitragend nutzen (können). Voraussetzung dafür sind entsprechende Kompetenzen.
Kompetenzanforderungen
Kompetenzanforderungen ergeben sich in einem Zusammenspiel der Beschaffenheit und Funktionsweise von digitalen Angeboten, lebensweltlichen Bedingungen der Kompetenzträger*innen, deren Motiven, digitale Medien zu nutzen, sowie kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Autor*innen beschreiben auf Basis des aktuellen Forschungsstands zunächst im Diskurs präsente Kompetenzanforderungen für Kinder im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen (AES). So erfordert der Umgang AES Kompetenzen im Umgang mit personalisierter Werbung sowie mit der Empfehlung kinder- und jugendschutzrelevanter Inhalte. Die Ergebnissen der Studie verweisen auf folgende Kompetenzanforderungen in Hinblick auf AES: Zunächst müssen Kindern lernen, digitale Geräte und Angebote interessengeleitet in Gebrauch zu nehmen, passende Inhalte auszuwählen und mit unerwünschten vorgeschlagenen Inhalten umzugehen. Diesbezüglich ist es nötig, die Funktionsweise von AES zu begreifen und eigene Handlungsoptionen wahrzunehmen und einzuordnen. Zudem stellt sich Kindern bei der Nutzung solcher Angebote grundsätzlich die Herausforderung, selbstständig aufzuhören. Dieser Anforderung begegnen die meisten Eltern mit Regulierung der Nutzungszeiten dieser Angebote. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass die Nutzung von Angeboten mit AES für Kinder hochkomplex ist. Ihnen stellt sich die Anforderung, zu verstehen, dass das eigene Handeln in komplexen sozio-technischen Systemen stattfindet und Interessenausgleich (meist mit den Eltern) notwendig ist. Sie müssen mit Prozessen und Rahmenbedingungen umgehen lernen, die sie kaum selbst beeinflussen können. Für einen sicheren Umgang damit brauchen Kinder verlässliche und wohlwollende elterliche Begleitung sowie soziale und affektive Kompetenzen, um bei möglichen Ohnmachtsgefühlen und Unsicherheit Unterstützung einzufordern und anzunehmen.
Kompetenzdimensionen
Instrumentell-qualifikatorische Dimension: digitale Geräte und Angebote interessengeleitet in Gebrauch nehmen.
Kognitive Dimension: Wissen über die Datenbasis und Funktionsweise von algorithmischen Empfehlungssystemen; Folgen der automatischen Personalisierung von Inhalten verstehen.
Affektive Dimension: Umgang mit Gefühlen, wie Ohnmacht; Auswahl von Inhalten auf Grundlage des "Bauchgefühls".
Kreative Dimension: spielerisches Erkunden der Funktionsweisen von AES.
Soziale Dimension: Umgang mit elterlicher Begrenzung der Mediennutzungszeit.
Kritisch-reflexive Dimension: ständige Analyse des Medienhandelns durch AES erkennen und bewerten; algorithmische Entscheidungen kritisch bewerten können; algorithmische Vorgänge und deren Ergebnisse einordnen können.
Zentrale theoretische Annahmen über Kompetenz
Kompetenzen werden als Fähigkeiten und Fertigkeiten beschrieben, die Subjekten, unter Rückgriff auf Wissensbestände und Erfahrungen sowie deren Reflexion, eine Orientierung im Handeln und das Umsetzen von Handlungen erlauben, mit denen die Subjekte an sich (selbst) gestellte Anforderungen selbstbestimmt und verantwortungsvoll bewältigen können. In Anlehnung an Schorb und Wagner (2013) definieren die Autor*innen Medienkompetenz als „'Befähigung zur souveränen Lebensführung in einer mediatisierten Gesellschaft', um am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu partizipieren und es aktiv mitgestalten zu können".
Perspektive der Kompetenzträger*innen auf Kompetenz einbezogen?
Der Perspektive der Kompetenzträger*innen wurde durch Einzelinterviews eingebunden.
Lebenskontexte der Kompetenzträger*innen einbezogen?
Dem Forschungsansatz des Kontextuellen Verstehens der Medienaneignung folgend wurden mediale und soziale Nutzungskontexte sowie persönliche Hintergründe der Befragten erhoben und ausgewertet. In der Studie sollte ein möglichst breites Spektrum an personalen Ressourcen und Lebenswelten Berücksichtigung finden. Daher wurde bei der Akquise systematisch darauf geachtet, Kinder verschiedenen Geschlechts, mit unterschiedlichen formalen Bildungshintergründen des Elternhauses sowie mit und ohne Migrationsgeschichte einzubeziehen.
Herausforderungen der Erfassung von Kompetenz
Herausforderungen bei der Erfassung der Kompetenzen von Kindern im untersuchten Alter lagen den Autor*innen zufolge zum einen darin, dass kaum auf methodische Zugänge zurückgegriffen werden konnte, um mit Kindern den komplexen Gegenstand algorithmischer Empfehlungssysteme zu thematisieren und es ihnen zu ermöglichen, die eigenen Kompetenzen zu verbalisieren und zu praktizieren. Zum anderen ist das Medienhandeln von Kindern in diesem Alter noch stark von der elterlichen Rahmung geprägt. Daher geben die Ergebnisse zu den Medien- und Digitalkompetenzen der Kinder auch Auskunft über das mediale Erziehungshandeln im sozialen Umfeld.
Zentrale empirische Befunde über Kompetenz
Die Kompetenzentwicklung von Kindern ist eng an die mediale Rahmung im Familien- und Sozialkontext gebunden. Jüngere Kinder sind dabei noch stark auf die elterliche Unterstützung angewiesen. Je älter Kinder werden, desto selbstbewusster wird auch ihr Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen, wobei die elterliche Kontrolle im Verlauf abnimmt. Eltern wünschen sich häufig Unterstützung, um ihre Kinder dabei zu unterstützen, einen kompetenten Medienumgang zu finden. Hierbei zeigt sich teilweise ein Spannungsfeld zwischen der wahrgenommenen Relevanz entsprechender Medien- und Digitalkompetenzen einerseits und dem Gefühl der Überforderung und des Fatalismus andererseits.
Quellenangabe
Schober, M., Berg, K., & Brüggen, N. (2023). KI als „Wunscherfüller“? Kompetenzen von Kindern im Umgang mit algorithmischen Empfehlungssystemen. kopaed. https://zenodo.org/records/10171264