03.2

Zugehörigkeiten und Kreativität von Migrant*innen im Erwachsenenalter

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Zugehörigkeiten und Kreativität von Migrant*innen im Erwachsenenalter

Kreatives Medienhandeln kann die Identitätsarbeit unterstützen. Gerade Migrant*innen sehen sich häufig mit stereotypen (medialen) Zuschreibungen konfrontiert bzw. ihr Leben auf nur einen kleinen Ausschnitt reduziert. Wie man solchen Stereotypen begegnen und mithilfe von Medien die eigene Geschichte erzählen lernen kann, beleuchtet der folgende Beitrag. Neben dem individuellen Verorten in der Gesellschaft und der Aushandlung von Zugehörigkeit geht es dabei auch um die Frage, welche Kompetenzen angesichts eines kreativen Medienumgangs von Bedeutung sind.

Einige Menschen werden besonders kreativ, wenn sie sich in einer Umbruchphase befinden – wie beispielsweise der Wechsel des Lebens- oder Arbeitsumfelds oder Veränderungen der Lebensphase wie der Beginn des Elternseins. Wie Kreativität ausgelebt wird, hängt eng mit dem konkreten Lebenskontext der Menschen zusammen. Anhand des Beispiels der mediatisierten Aushandlung von Zugehörigkeiten von Migrant*innen wollen wir aufzeigen, welche Rolle Kreativität im Erwachsenenalter spielen kann.

Konkret geht es dabei um die Fragen: Wie und wofür leben Menschen im Erwachsenenalter allgemein und Migrant*innen im Speziellen medienbezogene Kreativität aus? Welche Kompetenzanforderungen im Bereich der Kreativität werden dabei sichtbar? Inwiefern bestehen Druck und normative Erwartungen seitens der Gesellschaft, (kreativ) Fragen der migrantischen Zugehörigkeit auszuhandeln?

Zahlreiche Migrationsstudien befassen sich mit der Aushandlung von Identität und Zugehörigkeit durch digitale Medien, was ebenfalls kreative Praktiken umfasst. Eine Beschreibung solcher Aushandlungsprozesse mit dem Blick auf medienbezogene Kompetenzen ist bisher leider selten erfolgt.

Herausforderung für Migrant*innen: Umgang mit Stereotypen im Alltag

Migrant*innen in Deutschland sind in ihrer Alltagswelt häufig Stereotypen ausgesetzt. So zeigen beispielsweise Medien nur einen kleinen Ausschnitt von dem, was Migrant*innen sind, und greifen oft auf Klischees zurück. Frauen aus der Türkei werden beispielsweise eher mit Kopftuch als modern gekleidet gezeigt. Geflüchtete werden regelmäßig als bedürftig und/oder kriminell dargestellt. Menschen mit Migrationshintergrund werden immer wieder mit der Aushandlung von Zugehörigkeiten konfrontiert: Gleichzeitig empfinden sie eine innere Notwendigkeit und auch die gesellschaftliche Erwartung, sich in diversen kulturellen Kontexten (im Kontext des Herkunftslandes, des Aufnahmelandes, aber auch in anderen kulturellen Kontexten) zu positionieren und zu verorten.

Digital Storytelling als kreative Aushandlung von Zugehörigkeiten

Medienarbeit mit Migrant*innen sowie Geflüchteten versucht genau hier anzusetzen. Dabei liegt der Fokus auf dem Aufbau medienbezogener Fähigkeiten und Fertigkeiten, um die Vielschichtigkeit der Identität aushandeln und artikulieren zu helfen. Somit ist hier Kreativität als Handeln gefragt, das sowohl nach außen gerichtet ist (das eigene Selbst den anderen zeigen), jedoch auch einen starken Effekt auf die nach innen gerichtete Identitätsaushandlung aufweist (zu verstehen: Wie bin ich und wie sehen mich die anderen, was ist mir wichtig?). Solche Aushandlungsprozesse verlaufen unter anderem in kreativen Praktiken des Digital Storytelling.

Digital Storytelling meint allgemein das multimediale Erzählen von Geschichten. Im Migrationskontext kann Storytelling die Stimme eines Individuums, aber auch einer Gemeinschaft sein. Çiğdem Bozdağ (2013, S. 190) [1] hat in einer Studie aufgezeigt, wie türkische und marokkanische Migrant*innen in Onlineforen und Diskussionsgruppen auf Social-Media-Plattformen anhand von textuellen Erzählformen und visuellen Elementen wie Emoticons oder Bildern Repräsentationen und Interpretationen ihres eigenen Lebens erstellen. Diese werden wiederum von anderen Diskutierenden aus der Gemeinschaft wahrgenommen, kommentiert und verhandelt. Beispielsweise zeigt Bozdağ auf, wie junge muslimische Frauen der marokkanischen Gemeinschaft im Forum durch gemeinsames Erzählen fiktiver Geschichten einerseits alltägliche Probleme und Widersprüche thematisieren. Andererseits diskutieren sie über Aspekte ihrer diasporischen Identität als marokkostämmige junge Frauen in Deutschland. In den erzählten Geschichten geht es beispielsweise um Frauen mit Kopftuch, die ihr Leben nach islamischen Moralvorstellungen führen und selbstbewusst und erfolgreich sind. Dies stellt einen Gegenentwurf zu anderen medialen Erzählungen in Deutschland dar, in denen eine muslimische Frau als Protagonistin einer Geschichte eher selten positiv dargestellt wird. Somit trägt eine solche kreative Artikulation des migrantischen Lebens zum Selbstwertgefühl der Migrant*innen bei und bekräftigt sie im geteilten Lebensstil (Bozdağ 2013, S. 191). Gleichzeitig werden in solchen digital erzählten Geschichten Vorstellungen von Moral, Geschlechterrollen, Familie und Beziehungen gemeinschaftlich ausgehandelt. Kreative Medienpraktiken unterstützen eine Ermächtigung der Migrant*innen.

Digitale Praktiken der Verortung in der Gesellschaft

Durch die starke Bedeutung von Social Media in der Alltagswelt nutzen Migrant*innen diskursive Praktiken, die leicht zugänglich und in der Mehrheitsgesellschaft verbreitet sind. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte „Selfie-Activism“, bei dem mit einem Selbstporträt und dazugehörigem Text in Social Media auf ein Thema aufmerksam gemacht wird. So haben ehemalige Geflüchtete in Finnland eine Selfie-Kampagne gestartet, um auf Migrant*innen und insbesondere Geflüchteten unreflektiert zugeschriebene negative Aspekte hinzuweisen und eine Diskussion in der Gesellschaft darüber anzustoßen (Nikunen 2019) [2] . Somit wird einerseits auf problematische Aspekte des Mediendiskurses zu Migration hingewiesen, andererseits werden Praktiken eingeübt, die für den Umgang mit Ungleichheit und insbesondere ethnischen Stereotypisierungen in der Alltagswelt hilfreich sein können.

Wie digitale Medien in einer Umbruchphase der Migration hilfreich und kreativ eingesetzt werden können, zeigt ein Medienprojekt namens „Translocal Lives“ aus den Niederlanden. Dabei zeigt das Projekt auf, wie digitale Technologien kreativ im Prozess der Verortung im Aufnahmeland im Sinne von „recreate a sense of place“ genutzt werden können. Dabei wird analysiert, wie Geflüchtete Technologien produktiv nutzen können, um in einem für sie unbekannten Land auf einer sozialkulturellen Ebene anzukommen und heimisch zu werden. Dies fördert die Partizipation in der Aufnahmegesellschaft, aber auch eine Aushandlung der eigenen Position zum Herkunftsland. Gleichzeitig kann ein Spannungsverhältnis zwischen der Zugehörigkeit zum aktuellen Lebensort und dem Ort der Herkunft entstehen. In einem mehrteiligen Kurs experimentieren die Teilnehmer*innen mit analogen (Collagen, Zeichnungen, Texten) und digitalen (Videos, Fotografien und Stimmaufnahmen) Werkzeugen, um gemeinsames Wissen zu produzieren. Als Ergebnis erstellen die Migrant*innen ein Repertoire an digitalen Praktiken, die für die Verortung in der Gesellschaft hilfreich sein können. Diese umfassen Aspekte der Identität, der Zugehörigkeit, des Wohlbefindens, aber auch praktische Aspekte des digitalen Zurechtfindens in der Gesellschaft.

Kreatives Ankommen in der lokalen Medienwelt

Neben dem physischen Ankommen in einem Aufnahmeland müssen Geflüchtete und Migrant*innen auch in der dortigen sozialen und medialen Umwelt ankommen bzw. sich in bestehende Medienrepertoires integrieren können. Migrant*innen werden von unterschiedlichen Akteuren medial angesprochen und adressiert. Die Orientierung und das Finden von Vertrauen in unterschiedlichen Medienquellen – von TV-Sendern über Zeitungen bis hin zu spezifischen lokalen Internetseiten und Social-Media-Kanälen – sind bedeutsam für Menschen, die migriert sind. Dabei muss eine selbstbestimmte Zusammenstellung des Medienrepertoires erfolgen, die mit einer Herstellung von Bezügen sowie deren kritischer Bewertung zusammenhängt (Bruinenberg/Sprenger/Omerović/Leurs 2021) [3] . Eine kreative Lösungskompetenz, gekoppelt an kritisch-reflexive und kognitive Fähigkeiten, kann dabei hilfreich sein, um zunächst die diversen Medienangebote kennenzulernen und sie anschließend kritisch-reflexiv einordnen und in das Medienrepertoire integrieren zu können. An dieser Stelle sehen wir Unterstützungsbedarf: Eine anschauliche Übersicht der Medienlandschaft (ggf. mit Vergleichen mit internationalen Medienangeboten oder auch mit Medien aus diversen Herkunftsländern) kann Migrant*innen das mediale Ankommen erleichtern.

Audiovisuelle Fähigkeiten von Migrant*innen müssen gefördert werden

Die meisten (jungen) Erwachsenen nutzen zwar täglich unterschiedliche audiovisuelle Plattformen, jedoch verfügen sie nicht immer über umfassende instrumentell-qualifikatorische Fähigkeiten der Erstellung von visuellen Erzählungen. Sie haben zwar immer schon visuelle Geschichten und Erzählungen konsumiert, müssen sich jedoch spezifische Fähigkeiten aneignen, um selbst eine audiovisuelle Geschichte erzählen zu können. Medienarbeit, die an Migrant*innen ausgerichtet ist, kann auf diese Bedarfe eingehen und müsste in Deutschland ausgebaut werden – insbesondere auch für die Gruppe der Menschen im Erwachsenenalter. Neben instrumentell-qualifikatorischen und kreativen Fähigkeiten sind dabei auch kritisch-reflexive Fähigkeiten gefragt. So hat Ena Omerovićiv von der Universität Utrecht in den Niederlanden in einem Medienprojekt mit Geflüchteten festgestellt, dass die Teilnehmer*innen nach der kreativen Produktion von Videos zu Themen wie Propaganda oder Falschinformationen insgesamt kritischer mit Medienthemen umgehen können. Insbesondere Menschen, die das Gefühl haben, in der Aufnahmegesellschaft (noch) nicht angekommen zu sein, und normativ als desintegriert bezeichnet werden, kann die Erfahrung partizipativer medialer Identitätsarbeit positiv bestärken.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die beschriebenen Aspekte Beispiele alltäglicher Kreativität darstellen, die einen Nutzen für die individuelle Identitätsarbeit aufweisen. Kreativität wird dabei als Problemlösung in Umbruchphasen sichtbar als „Arbeit an sich“ bzw. als „Verortung in der Gesellschaft“, die ein Leben lang andauern kann. Medienbezogene Kreativität kann Migrant*innen helfen, mit stereotypen medialen Repräsentationen umzugehen, indem sie sich zu den Medieninhalten selbstbestimmt positionieren sowie auch diesen entgegenwirken können. Die Entwicklung kreativer und kritisch-reflexiver Fähigkeiten und Fertigkeiten stärkt somit die Teilhabe und Resilienz von Migrant*innen in der Gesellschaft (vgl. Leurs/Omerović/Bruinenberg/Sprenger, 2018) [4] . Entsprechende kreative Praktiken werden sowohl in individuellen (Social-Media-Beiträge) als auch in institutionellen Kontexten (Bildungseinrichtungen) realisiert und können auf beiden Ebenen gefördert werden.

Literatur

  1. Bozdağ, Ciğdem (2012): Aneignung von Diasporawebsites. Eine medienethnografische Untersuchung in der marokkanischen und türkischen Diaspora. Springer VS Verlag
  2. Nikunen, Kaarina (2019): Once a refugee: selfie activism, visualized citizenship and the space of appearance, Popular Communication, 17:2, 154–170, DOI: 10.1080/15405702.2018.1527336.
  3. Bruinenberg, Hemmo; Sprenger, Sanne; Omerović, Ena; Leurs, Koen (2021): Practicing critical media literacy education with/for young migrants: Lessons learned from a participatory action research project. International Communication Gazette. 2021; 83(1):26–47.
  4. Leurs, Koen; Omerović, Ena; Bruinenberg, Hemmo; Sprenger, Sanne (2018): Critical media literacy through making media: A key to participation for young migrants? Communications 2018; 43(3): 427–450.

Zitation

Sūna, L. 2021: Zugehörigkeiten und Kreativität von Migrant*innen im Erwachsenenalter. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/kreativitaet/kreativitaet-erwachsene/