03.3

Kreatives Medienhandeln im höheren Lebensalter

03.3

Kreatives Medienhandeln im höheren Lebensalter

Was Kreativität im höheren Alter bedeutet und warum ältere Menschen eher auf Erfahrungen setzen als auf Innovationen, das beantwortet der folgende Text. Er basiert auf dem Artikel „Schöpferisches Medienhandeln und (inter-)subjektive Sinnbildung im höheren Lebensalter“ von Prof. Dr. Anja Hartung-Griemberg, der in der merzWissenschaft 65 (5) erschienen ist.

Wer sein ganzes Leben über kreativ ist und es in verschiedenen Lebensbereichen auch sein muss, ist es auch im Alter – oder? Bestimmt. Doch die Ambitionen und die Formen der Kreativität ändern sich im Verlauf des Lebens und so auch im höheren Alter, allein schon, weil sich die eigenen Lebensumstände ändern. Die Welt um ältere Menschen herum entwickelt sich nicht nur im Bereich der Digitalisierung in rasender Geschwindigkeit. Sie birgt beständig neue Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, um die Orientierung im Lebensalltag nicht zu verlieren. Angesichts der rasanten kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen ist das Älterwerden des Menschen auch mit der Erfahrung eines sozialen und kulturellen Fremdwerdens verbunden (Rentsch 2012) [1] . Eine 71-Jährige formulierte diese Erfahrung in einem medienbiografischen Interview sehr eindrücklich: „Wenn du alt bist, fängst du neu an“ (Hartung-Griemberg 2017) [2] . Gerade das gilt auch für das Erschließen sich wandelnder Medienumgebungen.

Ältere Menschen verhalten sich anders zur Welt als jüngere. Die Perspektive der eigenen Endlichkeit rückt stärker in den Fokus – nicht nur weil sich der Körper verändert und Krankheiten häufiger werden, sondern auch weil Menschen aus dem engeren Umfeld sterben. Ältere Menschen sind vor neue Entwicklungsaufgaben gestellt, die sich auch auf ihre Weltwahrnehmung und mithin ihre Interessen auswirken. Wo finde ich Bestätigung jenseits beruflicher Herausforderungen? Wie kann ich im Angesicht meiner Endlichkeit durch gesellschaftliches Engagement etwas für die Zukunft der nachfolgenden Generationen tun? Kreativität zeigt sich hier sowohl als individuelle Fähigkeit als auch als gesellschaftliche Herausforderung.

Erfahrungswissen gewinnt an Bedeutung

Diese Überlegungen deuten bereits an, dass Kreativität im höheren Alter etwas anderes bedeutet als in jüngerem Alter. Zwar nimmt das „fluide Denken“ (Horn/Cattell 1966) [3] , also die Fähigkeit, (neue) Informationen schnell zu verarbeiten, mit steigendem Alter ab. Für den Bereich der Kreativität ist das aber nicht entscheidend: Unterstützt wird die Aufrechterhaltung der Kreativität durch die Fähigkeit des „kristallinen Denkens“ (Horn/Cattell 1966), die im Alter lange erhalten bleibt. Mit dem „kristallinen Denken“ ist das Erfahrungswissen gemeint, das ein Mensch im Laufe seines Lebens ansammelt – im Bereich des sozialen Handelns ebenso wie im Umgang mit Kulturtechniken (Schreiben, Lesen). Zu diesem Erfahrungswissen gehört heute auch zunehmend der Umgang mit Medien.

Potenziale statt Probleme

Das höhere Alter wird im Kontext der Digitalisierung überwiegend als Problemlage und nicht als Potenzial thematisiert. In den Diskussionen über die Herausforderungen der Medienkompetenzvermittlung steht das zu erlernende Funktionswissen und nicht die kreative Auseinandersetzung mit medialen Angeboten im Mittelpunkt. Einen alternativen Weg weist hier der medienpädagogische Ansatz der „Themenzentrierten Medienarbeit“ (Keilhauer/Schorb 2010) [4] . Dieser Ansatz hat seinen Ausgangspunkt nicht in den Funktionsweisen der Technik, sondern in den Fragen, Bedürfnislagen und Interessen, die für Ältere von Bedeutung sind und die mit Hilfe von Medien und Medienanwendungen artikuliert und gestaltet werden. Die Teilnehmenden probieren sich hier auf unterschiedlichen Pfaden, aber auch über Irrwege und Sackgassen aus. Sie aktivieren so ihr divergentes Denken und werden mithilfe von Medien kreativ.

Medien als erweiterte Handlungsspielräume

Der schöpferische Umgang mit Medien kann im höheren Lebensalter eine Möglichkeit sein, Gedanken auf eine Weise Gestalt zu verleihen, die allein durch sprachliche Mittel nicht gegeben ist. Erfahrungen können hier so Gestalt annehmen und sowohl auf selbstreflexiver als auch auf interpersoneller Ebene neue Zugänge und Formen der Auseinandersetzung entstehen.

Ein Beispiel: Innerhalb eines medienpädagogischen Projekts, das der Methode der Themenzentrierten Medienarbeit folgte, gestaltete ein 70-Jähriger eine audiovisuelle familienbiografische Collage, in der er sich mit dem Verlust seiner Partnerin schöpferisch-bewältigend auseinandergesetzt hat. Im Augenblick des Todes hat der gestaltbare und offene Beziehungsprozess einen Endpunkt erreicht. Die Beziehung geht über in Formen der Vergegenwärtigung und Reflexion: Welche Bedeutung hatte der Mensch für mich und meine Lebensgeschichte? Der Projektteilnehmer wollte seine Erinnerungen in Form eigener Aufzeichnungen, Videosequenzen, aber auch von Fotos und Briefen verarbeiten und das Ergebnis seiner Familie schenken. Sein Sohn und seine Enkel unterstützten ihn dabei, sich in ein Bildbearbeitungsprogramm einzuarbeiten. In seiner Collage zeichnet er den Lebensweg seiner Partnerin nach. Im Prozess der Gestaltung und der anschließenden Präsentation öffnen sich zwei kreative Räume: In der Erinnerung an den Lebensweg der Verstorbenen wird deren Bedeutung für die gemeinsame (Familien-)Geschichte noch einmal eindringlich bewusst. Die Aufführung im Kreis der Familie eröffnet darüber hinaus einen sozialen Raum des Austausches über die Bedeutung der Verstorbenen für das Familiensystem und die durch den Tod entstandene Lücke. So hat die kreative Erinnerungs- und Trauerarbeit auch eine therapeutische Funktion.

Stereotypen Repräsentationen des Alter(n)s aktiv entgegenwirken

Eine andere Möglichkeit des schöpferischen Medienumgangs im Alter ist die Auseinandersetzung mit Alter(n)skonstruktionen. Gerade mit Blick auf die Allgegenwart des Jugendlichkeitspostulates in Mediendiskursen ist der Blick auf mediale Repräsentation des Alter(n)s lohnend und produktiv. Im Wechselspiel eigener Erfahrungen und gesellschaftlicher Erwartungen an ältere Menschen kann Kreativität hier einen gesellschaftskritischen Ton annehmen. Das ist umso wichtiger, da häufig von gesellschaftlicher Teilhabe Älterer die Rede ist, Teilhabe aber allzu oft auf das Beherrschen von Nutzungsweisen reduziert wird. Dabei ist die mitgestaltende und mitverantwortliche Teilhabe älterer Menschen essenziell, um in einem von Jugendlichkeit geprägten medialen Umfeld differenzierte, lebensnahe und authentische Altersrepräsentationen zu ermöglichen.

Wieder ein praktisches Beispiel: Im Rahmen des Bundeswettbewerbs „Video der Generationen“ entstand die Videoinstallation „Immer diese Sehnsucht (nach Erfüllung der Träume)“. Darin probieren drei ältere Kund*innen in einer Umkleidekabine verschiedene Kleidungsstücke an, die ihnen eine Verkäuferin empfiehlt und die die Hersteller für ihre Altersgruppe designt haben. Es entsteht ein Wechselspiel der Perspektiven. Die Videoinstallation thematisiert reflektierte Lebenserfahrungen, aber auch den Widerstand gegen geschlechts- und altersspezifische Normen, und gegen fragwürdige Alter(n)svorstellungen und Körperdiskurse.

Kreativ – ein Leben lang

Die dargestellten Beispiele zeigen eindrücklich, dass Kreativität im Alter mit Blick auf die Möglichkeiten des Umgangs mit Neuem, aber auch hinsichtlich der individuellen Relevanzen, Fragen und Bedürfnislagen einem Veränderungsprozess unterworfen ist. Möglicherweise wird mehr Unterstützung benötigt, etwa beim Erlernen neuer Programme, da das fluide Denken im Abnehmen begriffen ist. Auf der anderen Seite können auch Lebenserfahrungen innovativ in kreative Prozesse einfließen und soziale, kulturelle und gesellschaftliche Debatten produktiv anregen.

Literatur

  1. Rentsch, Thomas (2012). Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit. In: Rentsch, Thomas/Vollmann, Morris (2012), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen. Stuttgart: Phlipp Reclam jun. Stuttgart, S. 189–206.
  2. Hartung-Griemberg, Anja (2017). „Wenn Du alt bist, fängst Du neu an“. Einsamkeitserleben und Fremdheitserfahrungen im Alter unter den Bedingungen mediatisierter Lebenswelten, medien & altern 10/2017, S. 8–23.
  3. Horn, John L./Cattell, Raymond B. (1966). Refinement and test of the theory of fluid and crystallized general intelligences. Journal of Educational Psychology, 57, S. 253–270.
  4. Keilhauer, Jan; Schorb, Bernd (Hrsg.) (2010): Themenzentrierte Medienarbeit mit Jugendlichen: Ein Modellprojekt mit deutschen und tschechischen Jugendlichen zum Thema Präimplantationsdiagnostik. München: Kopaed.
  5. Hartung-Griemberg, Anja (2021). Schöpferisches Medienhandeln und (inter-)subjektive Sinnbildung im höheren Lebensalter. merzWissenschaft 65 (5), S. 100–108.

Zitation

Thum, U. 2021: Kreativität – (k)eine Frage des Alters: Kreatives Medienhandeln im höheren Lebensalter. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: [https://digid.jff.de/magazin/kreativitaet/kreativitaet-hoeheres-lebensalter/], zitiert nach Hartung-Griemberg, A.: Schöpferisches Medienhandeln und (inter)subjektive Sinnbildung im höheren Lebensalter. merzWissenschaft 65(5).