Medienbildung und der digitale Faschismus. Normative Anfragen an medienpädagogische Kernkonzepte
Kurzbeschreibung
In den USA hat die Tatsache, dass es Teile der Alt-Right-Sympathisant*innen gut verstehen, im Internet ihre politischen Ansichten medienversiert darzustellen und eine diskursive Online-Beteiligung zu mobilisieren, zu einer Debatte in der Wissenschaftsgemeinschaft und Bildungspraxis geführt. Diskutiert wird die Frage, ob Angebote zur Förderung von Medienkompetenz nicht-intendierte Effekte hervorbringen, weil sie diejenigen medienkompetent machen, die am Demokratieabbau tatkräftig mitwirken. Das Phänomen des digitalen Faschismus fordert daher die Normativität und Ethik medienpädagogischer Konzepte von Medienkompetenz heraus und macht die Suche nach bildungstheoretischen und medienpädagogischen Lösungen immanent. Der Beitrag erörtert, ob die digitalen Praktiken der im rechten Umfeld agierenden zentralen politisch-strategischen, rechtsradikalen bzw. digital-faschistischen Akteur*innen in Deutschland als medienkompetent eingestuft werden können. Um diese Frage zu beantworten, werden zwei gut etablierte Konzeptionen von Medienkompetenz und Medienbildung herangezogen: das Bielefelder Medienkompetenz-Modell von Dieter Baacke sowie die Theorie strukturaler Medienbildung von Benjamin Jörissen und Winfried Marotzki. Insgesamt ist zu konstatieren, dass der digitale Faschismus zwar Schnittmengen mit beiden Modellen erkennen lässt, aber die oben skizzierte Frage, ob digital-faschistische Akteur*innen medienkompetent sind, schwierig zu beantworten ist. Abschließend erörtert der Autor, welche bildungstheoretischen und medienpädagogischen Interventionen im Bereich der (Politischen) Medienbildung ergriffen werden können.
Annahmen über die Folgen der Digitalisierung
Die Digitalisierung erweist sich auch für faschistische Bewegungen als äußerst anschlussfähig, da internetbasierte Netzwerke es ihnen erlauben, jenseits von Parlamenten nicht-hierarchische und polyzentrische Organisationsstrukturen aufzubauen, Aktivitäten zu organisieren und auf veränderte Gegebenheiten dynamisch zu reagieren. Dabei setzen sie bild- und humorbasierte Mittel aus der Internet-Meme-Ökonomie in sozialen Medien ein, um menschenfeindliche Ideologien mithilfe politischer Prinzipien zu verbreiten. Traditionelle Argumentations- und Diskursstrategien sowie Organisationsstrukturen lässt der digitale Faschismus hinter sich, wenn kleine Gruppen ohne Führungsfigur jenseits der Parteipolitik die digital-mediale Infrastruktur der Online-Plattformen nutzen, um einen alltäglichen „Kulturkampf“ mit intentionalen und strategisch betriebenen faschistischen Politiken und taktisch eingesetzten Affektökologien zu betreiben. Dabei profitieren digital-faschistische Akteure von Plattformstrukturen, indem sie die Anonymität der User*innen bzw. Produzent*innen schützen und algorithmische Rankings nutzen, um bestimmten Posts Aufmerksamkeit zu verleihen. Ferner werden Grundprinzipien der strategischen politischen Kommunikation eingesetzt, um Aufmerksamkeit zu generieren.
Kompetenzanforderungen
Digital-faschistische Akteur*innen beherrschen einen Teil von Fähigkeiten, die sich im Rahmen des Medienkompetenzkonzepts verorten lassen (vor allem in den Bereichen der Medienkunde, -nutzung und-gestaltung). So können sie Hard- und Software bedienen, sind mit den algorithmischen Aufmerksamkeitslogiken sozialer Netzwerke vertraut und können diese gezielt für ihre Zwecke nutzen, etwa indem sie regulatorische Leerstellen identifizieren und diese für die Gestaltung von Botschaften ausreizen. Sie können Websites, Online-Shops und soziale Netzwerke einrichten und unterhalten und politische Botschaften unter dem Einsatz ästhetischer Mittel formulieren, etwa durch kollektive Remix-Praktiken (Meme-Kultur). Zudem üben sie Kritik an etablierten Medieninstitutionen und deren journalistischen Akteur*innen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Dabei lässt sich jedoch schwer einschätzen, inwiefern dem eine fundierte Analyse vorausgeht.
Kompetenzbegriffe (nach dem Papier)
Medienkompetenz | Medienbildung
Unterdimensionen (nach dem Papier)
Medienkritik,
Medienkunde,
Mediennutzung,
Mediengestaltung (Baacke 1997),
Was kann ich wissen?,
Was soll ich tun?,
Was darf ich hoffen?,
Was ist der Mensch? (Jörissen & Marotzki 2009)
Kompetenzdimensionen (nach dem Rahmenkonzept von Digitales Deutschland)
Instrumentell-qualifikatorische Dimension: Geräte, Software etc. bedienen können.
Kognitive Dimension: Klassisches Wissen über Medientechnologien und -institutionen; Programminhalte nutzen können; mit algorithmischen Aufmerksamkeitslogiken sozialer Netzwerke vertraut sein.
Affektive Dimension: Vernunftorientierung; Mediennutzung genießen.
Kreative Dimension: Eigene Botschaften gestalten können; mediale Artikulation; Mediensysteme verändern; Medien gestalten, d.h. die Gestaltungs- und Kommunikationsroutinen ästhetisch überschreiten.
Soziale Dimension: Interaktivität in medial-sozialen Arenen; Verantwortung gegenüber anderen und der Gemeinschaft; eigene Botschaften senden und digitale Räume wählen können.
Kritisch-reflexive Dimension: Medial zirkulierende Informations- und Wissensbestände kritisch reflektieren; Menschenbilder kritisch reflektieren; Verhältnis von Mensch und Technik reflektieren; algorithmische Aufmerksamkeitslogiken zu nutzen wissen.
Zentrale theoretische Annahmen über Kompetenz
Die Betrachtung der Dimension von Medienkritik zeigt, dass die analytische Medienkritik der Rechten (z.B. öffentlich-rechtlicher Runfunk als “Lügenpresse”) nicht dem Diktum Baackes entspricht, das analytische Wissen auf das eigene Handeln anwenden zu können. Denn rechte Medienschaffende geben nicht öffentlich zu, selbst unlautere Informationen und Unwahrheiten zu verbreiten. Auch lässt sich hinsichtlich der ethischen Dimension von Medienkritik festhalten, dass digital-faschistische Medienschaffende nicht sozialverantwortlich agieren, weil sie nicht nach der Herstellung kommunikativer Wahrheit streben, weitere diskursethische Prinzipien (Vernunftorientierung, Kontextualität, Prozessualität, Kontingenz, Offenheit gegenüber veränderter Faktenlage) unterwandern und weder an einem genuinen Austausch mit Andersdenkenden und einem Abwägen von Argumenten noch an der Herstellung eines mündigen Publikums interessiert sind. Angesichts dieser Aspekte zeigen die rechten Medienschaffenden nicht die Art von kommunikativer Kompetenz sensu Habermas und Baacke. Jedoch verstehen es die digital-faschistischen Akteur*innen sehr wohl, Emotionalisierung in der politisch-strategischen Kommunikation reflektiert-rezeptiv einzusetzen. Doch das Modell von Baacke trägt aufgrund seines Fokus auf Rationalität solchen Emotionalisierungsstrategien wenig Rechnung. Auch die im Modell strukturaler Medienbildung aufgeworfene Frage nach dem dialektischen Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit des Bildungsverständnisses hilft nur begrenzt, um die digitalen Praktiken digital-faschistischer Medienschaffender einzuschätzen. Somit sollten auch in kürzeren Darstellungen grundlegender Medienkompetenzmodelle nach der Meinung des Autors normative und ethische Aspekte expliziter Berücksichtigung finden. Damit würde Medienbildung stärker politisch ausgerichtet. Affektstrukturen sollten in der Theorie und Praxis von Bildung stärker berücksichtigt werden. Ferner gilt es, Reflexivität nicht mehr zum Hauptkriterium von Medienbildung zu erheben, denn die digitalen Praktiken rechtsintellektueller Akteur*innen weisen laut dem Autor ebenso reflexive Strukturen auf.
Perspektive der Kompetenzträger*innen auf Kompetenz einbezogen?
keine Angabe
Lebenskontexte der Kompetenzträger*innen einbezogen?
Die digitale Medienumgebung, die rechte Medienmacher*innen für ihre Zwecke nutzen, wird dezidiert in den Blick genommen, inklusive der dort vorherrschenden Affektlogiken und algorithmischen Strukturen. Die persönlichen Bedingungen und das soziale Umfeld dieser Akteur*innen bleiben jedoch im Dunkeln.
Herausforderungen der Erfassung von Kompetenz
keine Angabe
Quellenangabe
Dander, V. (2024). Medienbildung und der digitale Faschismus. Normative Anfragen an medienpädagogische Kernkonzepte. In S. Schenk (Hrsg.), Populismus und Protest. Demokratische Öffentlichkeiten und Medienbildung in Zeiten von Rechtsextremismus und Digitalisierung (S. 149–174). Barbara Budrich.