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Es rappelt in der KIste

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Es rappelt in der KIste

Trotz Arbeitskräftemangel: Menschen mit Behinderung haben es immer noch schwer auf dem Arbeitsmarkt. Könnte Künstliche Intelligenz das ändern?

Langsam findet der Tag sein Ende, der Feierabend beginnt. In der Luft hängt das Benzin der Taxis. Die Gehwege riechen nach Regen. Wie Ameisen wuseln die Menschen in Richtung Münchner Hauptbahnhof, weg von der Plackerei, rein in die S-Bahnen, nur heim.

Mitten in diesem Trubel tastet sich Aleksander Pavkovic seelenruhig voran. Wir wollen uns über Künstliche Intelligenz (KI) unterhalten und vor allem über die eine Frage: Wie können selbstlernende Programme Menschen mit Behinderung bei der Arbeit unterstützen? Halbtags arbeitet Pavkovic als Berater für blindenspezifische IT-Aspekte. Seit er ein Kind ist, begeistert ihn Technik. Für ihn ist Technik Teilhabe. KI nennt er eine „Chance“. Nach Feierabend versucht er die Technik dann selbst einzusetzen, nämlich dann, wenn er als Diakon in seiner Kirchengemeinde unterwegs ist. Auch wenn das selten gelingt.

Mit seinem weißen Blindenstock streicht Pavkovic über ausgetretene Kippen, eingetretene Kaugummis und Gullideckel. Sein Navigationssystem sind der Stock und seine Erinnerung. Schwierig wird’s, sagt er, wenn er in einer neuen Umgebung unterwegs ist. Gestern zum Beispiel hat er Essen für eine Hilfsaktion gesammelt, danach musste er für ein Taufgespräch zu einer Familie nach Hause. „Das Navigationssystem auf unseren Handys ist auf 20 Meter ungenau. Ich weiß also nie: Stehe ich vor der richtigen Tür, vor dem richtigen Haus, auf der richtigen Straßenseite?“ Es sind oft die kleinen Dinge, die ihn behindern. Genau dort könnte KI so viel bewirken.

Mit KI gegen den Arbeitskräftemangel

Gerade vergeht kaum eine Woche, in der man nicht etwas über Künstliche Intelligenz liest. Das Thema boomt. ChatGPT, ein Chatbot auf der Basis von KI, nutzen monatlich 100 Millionen Menschen. Die Bundesregierung möchte bis 2025 fünf Milliarden Euro in eine nationale KI-Strategie investieren. Wirtschaftsminister Robert Habeck sagte vor Kurzem: „Künstliche Intelligenz ist eine der wesentlichen digitalen Zukunfts- und Schlüsseltechnologien und damit entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der EU.

Gleichzeitig hat die Zahl der unbesetzten Stellen in Deutschland einen neuen Höchstwert erreicht. 1,98 Millionen Menschen mehr bräuchte der deutsche Arbeitsmarkt. Nun ist es so, dass die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung noch immer doppelt so hoch ist, wie die von Menschen ohne Behinderung. 11,5 Prozent, laut des Inklusionsbarometers Arbeit 2022. Pavkovic sagt, dass Arbeitnehmende mit Behinderung im Schnitt genauso motiviert seien, sie hätten sogar weniger Krankheitstage. Für ihn liegt es also nahe, dieses Potenzial mit KI zu verbinden. Es würde allen helfen – den Blinden und den Unternehmen.

Inzwischen sitzen wir in einer kleinen Bäckerei und schlürfen Automatenkaffee. Es gebe ein paar KI-Apps, die er nutze, sagt Pavkovic. Mit ChatGPT habe er mal eine Predigt vorformuliert. Die sei aber sehr emotionslos gewesen, das Überarbeiten hätte länger gedauert, als sie neu zu schreiben. Für die vielversprechendste App hält Pavkovic gerade SeeingAI, sie ist kostenlos. Sie soll die Umgebung erkennen und in Worte fassen, erkennt Texte, Bargeld, Barcodes, Menschen und sogar Emotionen. Beispiel: Pavkovic kommt zu einem Taufgespräch, er zückt sein Handy, filmt in den Raum und die App beschreibt, was Pavkovic nicht sehen kann. Es sei sehr rudimentär, sagt Pavkovic. Und es dauere. „Bevor mir die App sagt, da sitzen zwei Menschen, sind die meist schon aufgestanden und haben sich vorgestellt.“ Und: Wenn er die Texterkennung an die Klingelschilder hält, liest sie die Namen vor. Wo er klingen soll, das weiß Pavkovic dann noch immer nicht.

Das klingt jetzt noch nicht wahnsinnig vielversprechend. Um zu verstehen, warum Pavkovic trotzdem so viel Hoffnung in solche KI-Hilfen setzt, muss man kurz in seine Jugend zurückspringen.

Er muss noch immer lächeln, wenn er an die Fußball-Weltmeisterschaft 1990 denkt. Kurz zuvor hatte er ein Funkgerät geschenkt bekommen. Pavkovic hörte die WM-Spiele im Radio. Zur Halbzeit funkte er sich mit seinen Freunden zusammen. Spielbesprechung. „Ich war einmal nicht im Nachteil. Das hat sich toll angefühlt.“ Etwas später bekam er seinen ersten Rechner – daran war eine Art Scanner angeschlossen. Plötzlich konnte er sich alles, was gedruckt war, vorlesen lassen. Pavkovics Lächeln ist nun vollends zu einem breiten Grinsen geworden. „Das war ein echter Gamechanger“, sagt er. „Ich habe in den ersten Monaten den gesamten Bücherschrank meiner Schwester durchgescannt.“

Pavkovic machte Abitur und studierte Slawistik in München und Prag. Wenn der Scanner ein mittelalterliches Buch auf Latein nicht lesen konnte, bat er Kommiliton*innen um Hilfe. Andersherum half er, wenn sie ihn brauchten. Studieren ging gut als Blinder, sagt Pavkovic. Dann stockt er. „Wissen Sie“, sagt er. „Ich bin jetzt quasi blind als Beruf. Das wollte ich nie.“ Als er im Jahr 2010 promovierte, schrieb er so viele Bewerbungen, dass er sie irgendwann nicht mehr zählen wollte. Alles Absagen, sagt er. „Ich kann es nicht beweisen, dass es wegen meiner Blindheit war. Glauben tu’ ich es aber schon.“ Also heuerte er als Dozent an und brachte anderen Blinden bei, mit Computern zu arbeiten. Aber immerhin habe er einen Job, sagt er.

In Europa sind 75 Prozent aller blinder Menschen im erwerbsfähigen Alter arbeitslos, heißt es bei der European Blind Union. Viele Arbeitgeber hätten noch Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung, sagt Pavkovic. Und das, obwohl, wie das Inklusionsbarometer zeigt, 80 Prozent der Unternehmen angeben, keine Leistungsunterschiede zwischen Kolleg*innen mit und ohne Behinderung wahrzunehmen.

KI könnte einen großen Anteil daran haben, Menschen mit und ohne Behinderung noch näher zusammenzubringen, glaubt Pavkovic. Wie damals mit der Funktechnik oder dem Scanner: KI könnte der nächste große Schritt zur Inklusion auf dem Arbeitsmarkt sein.

Die KI-Brille

Draußen in Kirchseeon, einem Münchner Vorort, arbeiten Jochen Kunert und Josef Galster genau an diesem Ziel. Seit über 20 Jahren sind die beiden beim Berufsförderungswerk beschäftigt. Man kann es sich vorstellen wie eine Art Berufsschule für Menschen mit Behinderung. Kunert leitet den Bildungsbereich, Galster davon die Techniksparte. Sie sind dafür verantwortlich, dass ihre 600 Auszubildenden nun seit gut zwei Jahren mit KI experimentieren können. Sie sagen: „Wir wollten so bald wie möglich dabei sein. Die Chance durften wir nicht verpassen.“

Wie KI-unterstützte Arbeit funktionieren kann, das sieht man im Raum 3218. Hier liegt sie, eine sogenannte Augmented-Reality-Datenbrille. Sie sieht ein wenig aus wie ein Stirnband, rechts ist eine Kamera befestigt, vor dem Auge eine Art Glasplatte. Brille und Programmieroberfläche kamen von einer externen Firma, Galster hat das Programm dazu geschrieben. Ihre Zielgruppe sind Menschen mit Lernschwäche, Angststörungen und/oder körperlichen Defiziten. Lernen ohne Zeitdruck, mit so vielen Wiederholungen, wie sie eben wollten. Kunert sagt: „Menschen mit Behinderungen sind ja oft auf andere angewiesen. Der Druck kann Lernen noch schwieriger machen.“

Wenn es aber darum geht, wie weit KI bereits jetzt in der Arbeitswelt zur Inklusion von Menschen eingesetzt wird, dann hat Jochen Kunert eine schlechte Nachricht. In der freien Wirtschaft, davon geht er aus, werde man kaum einen Fall finden.

Das hat Gründe, einige sogar. Es fehlt zum Beispiel die Datenbasis. KI wird nur klüger, wenn man sie mit Daten füttert. Sie braucht Szenarien, aus denen sie lernen kann. Zwar gibt es beinahe acht Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland, die Vielfalt darunter ist jedoch enorm. Manche haben körperliche, manche kognitive, manche psychische Einschränkungen, mal von Geburt an, mal durch einen Unfall. Gleichzeitig werden Berufe immer spezialisierter, komplexer und Arbeitsschritte kleinteiliger. Zudem ist ein wichtiges Detail noch immer nicht geklärt: die Haftung. Wenn die KI einen falschen Arbeitsschritt vorschlägt und der Mensch ihn ausführt, wer trägt dann die Verantwortung? Wirtschaftlich und rechtlich lohnt es sich deshalb für viele Unternehmen nicht, in KI-Hilfen zu investieren – oder allein sie zu testen.

Galster reicht dem Reporter die Brille. „Mal ausprobieren?“

Auf der Glasplatte am Rand des Sichtfelds schwebt plötzlich ein Menü. Mit Sprachbefehlen kann man durch die Anleitung navigieren, mit Videos wird gezeigt, wie man ein Netzwerkkabel aufschneidet und montiert. Es funktioniert erstaunlich gut. „Ein Teil der KI ist in der Sprachsteuerung, sie stellt sich auf die Stimme ein“, sagt Galster.

Die andere KI in der Brille ist die Objekterkennung. Wir versuchen nun, eine Crimpzange unter den Werkzeugen zu finden, die auf dem Tisch liegen.

Ich sage: „Werkzeuge erkennen.“

Dann: „Crimpzange.“

Galster sagt: „Jetzt müssen Sie nur auf das Richtige schauen, dann meldet sich die KI.“

Ich schaue und schaue umher. Die KI meldet sich nicht, was Galster sehr ärgert. „Mensch, gerade vorher hat’s noch funktioniert.“

Kunert und Galster haben sich, bevor sie sich für die Augmented-Reality-Datenbrille entschieden, durch eine lange Liste mit Hilfssystemen gearbeitet, die irgendwas mit KI zu tun hatten. Ergonomische Arbeitsplätze, Virtual-Reality-Brillen für Menschen mit Lernproblemen, Emotionserkennungssoftware. Die meisten Ideen hätten das Labor noch nicht verlassen, sagt Kunert. „Aber der Weg ist schon beschritten. Das bereitet uns Hoffnung.“ Zudem: Die Rückmeldungen der Auszubildenden zur Datenbrille seien durchweg positiv gewesen.

Und vor allem: Das Experiment hätte den Auszubildenden die Sorgen und Ängste vor KI genommen. Trotzdem müsse es Grenzen für KI geben, sagt Kunert, der auch im Ethikbeirat des Berufsförderungswerks sitzt. „Arbeit ist von der WHO als menschliches Grundrecht eingestuft. Künstliche Intelligenz darf bei einer Tätigkeit nur helfen, aber nie die Oberhand bekommen. Es wäre keine wirkliche Arbeit, wenn man nicht einen Handgriff selbst machen müsste.“

Die KI, ein besserer Begleiter

Im Münchner Hauptbahnhof machen wir uns langsam daran, aufzubrechen. Pavkovic sagt: „Wir sehen gerade die Entstehung einer gefühlslosen Assistenz, im guten Sinne.“ Irgendwie merkt er, dass ich ihn etwas ratlos anschaue. „Der Mensch neigt zum Filtern, ich sehe die Welt nur durch die Augen meines Begleiters. Die KI aber ist neutral.“ Gleichzeitig, sagt er, sei er gegenüber der KI in keiner Bittstellung. Er wäre ihr gegenüber nicht im Nachteil und würde sich dadurch unangenehme Gefühle sparen.

Und wenn es nur das ist, dann wäre schon viel damit erreicht.

Zitation

Hogger, M. 2023: Es rappelt in der KIste. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/diversitaet/es-rappelt/.

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