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Welche Kompetenz für wen? Von den Herausforderungen einer diversitätssensiblen Medien- und Digitalkompetenz

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Welche Kompetenz für wen? Von den Herausforderungen einer diversitätssensiblen Medien- und Digitalkompetenz

Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Gerechtigkeitsdimensionen wird sichtbar, dass die Befähigung zu einem kompetenten Medienumgang individuell mitunter sehr unterschiedlich aussehen muss. Welche Konsequenzen hat also der Anspruch eines diversitätssensiblen Medienkompetenzbegriffs vor dem Hintergrund des dem Projekt Digitales Deutschland zugrunde liegenden Rahmenkonzepts? Gedanken und Fragen zum Zusammenhang von Diversität und Kompetenz in Zeiten des digitalen Wandels.

Diversität als die Anerkennung individueller, sozialer und struktureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Menschen und Gruppen betreffen u. a. Merkmale wie Alter, soziale und ethnische Herkunft, Nationalität, Geschlecht, sexuelle Orientierung sowie körperliche und geistige Fähigkeiten (vgl. https://www.charta-der-vielfalt.de/fuer-arbeitgebende/vielfaltsdimensionen/). Wie kann es angesichts dieser vielfältigen individuellen Voraussetzungen und der damit verbundenen Lebenslagen gelingen, möglichst viele Menschen zu einem kompetenten Umgang mit digitalen Medien zu befähigen? Und was bedeutet „kompetenter Umgang“ im Kontext von Diversität überhaupt?

Kompetenzen und Kompetenzanforderungen stehen im Zentrum des Projekts Digitales Deutschland. Dabei dreht sich alles um die Frage, welche (neuen) Kompetenzanforderungen sich angesichts des digitalen Wandels an Menschen unterschiedlichen Alters stellen. Das Rahmenkonzept zum Projekt liefert dabei zunächst eine differenzierte Betrachtung des Begriffs entlang unterschiedlicher Kompetenzdimensionen (instrumentell-qualifikatorisch, kognitiv, affektiv, kreativ, sozial und kritisch-reflexiv). Außerdem werden damit Kompetenzanforderungen an bestimmte Gruppen sichtbar gemacht.
Bislang wurden diese Anforderungen primär entlang spezifischer Lebensphasen gedacht, etwa Kindheit und Jugend, Erwachsenenalter und höheres Lebensalter. Vor dem Hintergrund zunehmend diverser Gesellschaften plädieren wir dafür, Kompetenzanforderungen stärker auch entlang spezifischer Lebenslagen zu differenzieren. Damit einher gehen neue Fragestellungen und Herausforderungen, auf die mit diesem Beitrag aufmerksam gemacht werden soll.

Was sind Kompetenzen und Kompetenzanforderungen?

Kompetenz ist zunächst eine qualitative Eigenschaft des Handelns. Sie kann sowohl intrinsisch („Wollen“) als auch extrinsisch („Sollen“) motiviert sein ​(Digitales Deutschland 2021) [1] ​. Medien- und Digitalkompetenz umfasst ein Bündel an Fähigkeiten und Fertigkeiten und wird im Handeln erworben. Doch welcher Fähigkeiten bedarf es, um im Alltag selbstbestimmt mit digitalen Medien und Systemen zu handeln? Gerade in Hinblick auf die Diversität der Kompetenzträger*innen ist dies keine leicht zu beantwortende Frage. Denn Kompetenzträger*innen befinden sich mit ihren je individuellen Voraussetzungen und Bedürfnissen in ganz unterschiedlichen Situationen, die es zu bewältigen gilt. Dies drückt sich im Begriff „Kompetenzanforderung“ aus. Denn „Kompetenzanforderungen sind konkrete, situations- und gegenwartsbezogene Anforderungen an das Subjekt, um in der mediatisierten und von Digitalisierung geprägten Lebenswelt handeln zu können. Sie zeigen sich im Alltag, wenn konkrete Probleme gelöst werden sollen, die sich dem Subjekt in unterschiedlichen Lebensbereichen […] stellen“ ​(Digitales Deutschland 2021, S. 7)​. Sie resultieren also sowohl aus Bedürfnissen und Handlungsplänen einer Person als auch aus äußeren Bedingungen der Lebenswelt, der Art und Weise, wie digitale Medien und Systeme aufgebaut sind und funktionieren, sowie kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen ​(Digitales Deutschland 2021)​. Medien- und Digitalkompetenz entwickelt sich und existiert also immer eingebunden in eine Trias aus Subjekt, Medium und Gesellschaft.

Wer setzt eigentlich die Norm?

Mit der Anerkennung diverser Gesellschaften gehen nicht nur unterschiedliche, mitunter angepasste Erwartungen an die Selbstbestimmtheit und Problemlösefähigkeit Einzelner einher. Es werden gleichermaßen auch neue normative Ansprüche an gesellschaftliche wie mediale Strukturen gestellt, die in erster Linie auf den Zugang und die Teilhabemöglichkeiten möglichst vieler Menschen abzielen, und zwar unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft und unter Berücksichtigung individueller Voraussetzungen.

Kompetenzanforderungen ergeben sich aus dem Zusammenspiel von subjektiv gesetzten Handlungszielen in konkreten Lebenslagen im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und medialer Handlungsoptionen und -beschränkungen. Diese externe Setzung ist also sowohl gesellschaftlich als auch medial normativ geprägt. Das Konzept der Kompetenzanforderungen kann dazu dienen festzustellen, woher bestimmte Anforderungen kommen, und so sichtbar machen, wie normative Setzungen zustande kommen. Denn sie beleuchten sowohl, welche Kompetenzen von Subjekten wo und warum gefordert, als auch, wie diese begründet werden (Digitales Deutschland, 2021). Ergeben sie sich etwa aus dem Umstand, dass eine Person digitale Medien aus eigenem Antrieb nutzen möchte? Oder ist es vielmehr der Rahmen, beispielsweise der Lehrplan in der Schule, der festlegt, womit mensch sich auseinandersetzen sollte?

In sozialen Normen werden Erwartungen der Gesellschaft an das Verhalten von Individuen manifestiert. Normative Setzungen zu hinterfragen ist gerade im Kontext von diskriminierungskritischer Diversity bedeutsam. Denn in diesem Verständnis gilt es, die Anerkennung von Vielfalt stets mit der Analyse und Kritik struktureller Diskriminierung zusammenzudenken ​(Czollek et al. 2019) [2] ​. Strukturelle Diskriminierung manifestiert sich unter anderem über die unterschiedliche Verteilung von Hör- und Sichtbarkeit (gemeint ist, welche gesellschaftlichen Gruppen wahrgenommen werden) sowie von funktionalen Zuordnungen (etwa, wer formuliert, was „normal“ ist) ​(Czollek et al. 2019, S. 27)​. Medien- und Digitalkompetenz wird deshalb als normativer Begriff verstanden, weil damit definitorische Ansprüche an erwartete Souveränität und Selbstbestimmtheit formuliert werden. Vor dem Hintergrund diskriminierungskritischer Diversity stellt sich – ähnlich wie im Konzept der Kompetenzanforderungen – die Frage, woher die Norm kommt. Wer wird dabei gehört? Und wer vielleicht (bislang) weniger? Und weitergehend: Kann es überhaupt eine Norm geben, wenn individuelle Voraussetzungen und damit einhergehende Fähigkeiten und Fertigkeiten stärker berücksichtigt werden? Wenn der Anspruch besteht, Medien- und Digitalkompetenz vom Subjekt aus zu denken, muss auch reflektiert werden, inwieweit die jeweiligen Kompetenzträger*innen überhaupt einbezogen werden, um unterschiedliche Kompetenzdimensionen und -anforderungen auszudifferenzieren. Im Kontext von Diversität erscheint es daher naheliegend, den Wert Gerechtigkeit als Prüfstein für gegebene oder neu auftretende normative Setzungen heranzuziehen. Es drängt sich die Frage auf: Wie kann gewährleistet werden, dass möglichst viele Personen ihren digitalen Alltag gut bewältigen können?

Social Justice der Medienkompetenz – Utopie oder Ideal?

Neben der grundlegenden Fokussierung des Individuums in dem Sinne, wie Medien- und Digitalkompetenz vom Individuum aus gedacht werden kann, muss gleichermaßen der gesellschaftliche Rahmen Beachtung finden, in dem Kompetenzträger*innen Medien- und Digitalkompetenz entwickeln können. Hierzu beziehen wir den Begriff der Gerechtigkeit aus dem Social-Justice-und-Diversity-Konzept mit ein. Im Rahmen dieses Konzepts wird soziale Gerechtigkeit anhand von vier Dimensionen differenziert, die wir im Folgenden als Denkanstöße nutzen möchten: Verteilungs-, Anerkennungs-, Befähigungs- und Verwirklichungsgerechtigkeit ​(Czollek et al. 2019)​.

1. „Verteilungsgerechtigkeit meint, dass alle Menschen in Bezug auf das physische und psychische Leben in Sicherheit und Wohlbefinden leben können. Dabei geht es um die Verteilung von Geld und Gütern, aber auch anderer Ressourcen wie z. B. Zeit und Aufmerksamkeit“ ​(Czollek et al. 2019, S. 24)​. Bezogen auf Prozesse des Kompetenzerwerbs, stellen sich damit u.a. die folgenden Fragen: Wie kann gewährleistet werden, dass möglichst viele Menschen Zugang zu digitaler Infrastruktur haben? Welcher Voraussetzungen bedarf es, um dabei möglichst vielfältigen Bedarfen und Bedürfnissen gerecht zu werden? Und welche Hürden hindern Menschen mit spezifischen Voraussetzungen am Zugang zu digitalen Medien und Systemen? Und wie können diese abgebaut werden?

2. „Anerkennungsgerechtigkeit bedeutet, dass alle Menschen durch die Möglichkeit der Teilhabe und der Partizipation an gesellschaftlichen Feldern und Belangen anerkannt werden. Hier geht es auch darum, wer an welchen Stellen über Entscheidungs- und Anweisungsmacht verfügt, wie die Arbeit aufgeteilt ist und welche kulturellen Reproduktionsmechanismen dabei eine Rolle spielen“ ​(Czollek et al. 2019, S. 24)​. Die Anerkennung unterschiedlicher Voraussetzungen und Bedürfnisse wurde oben bereits im Zuge normativer Konzepte tangiert. Statt Kompetenz anhand einer universellen Setzung wie Souveränität zu „messen“, könnte diese anhand individuell selbst gesetzter Kompetenzniveaus definiert werden. Dabei gilt es zu beachten: Wie und wo können Menschen ihre persönlichen Kompetenzbedarfe kommunizieren? Wie sollten entsprechende Artikulationsräume gestaltet sein? Wie gelingt es auch aus wissenschaftlicher Perspektive, möglichst nah an die Perspektive der Kompetenzträger*innen anzuschließen und dementsprechend die bestehende Norm von Medien- und Digitalkompetenzanforderungen weiter auszuhandeln? Hierbei ist besonders der Angebotscharakter der Überlegungen zu betonen. Aus der Möglichkeit zur Teilhabe, Artikulation und Partizipation sollte keine Verpflichtung entstehen ​(Czollek et al. 2019)​.

3. „Befähigungsgerechtigkeit bedeutet, dass Institutionen bzw. die Gesellschaft Menschen nicht nur etwas zur Verfügung stellen, sondern sie auch dazu befähigen sollten, das zur Verfügung Gestellte anwenden zu können“ ​(Czollek et al. 2019, S. 24)​. Die Ausgestaltung der Befähigung knüpft unmittelbar an medienpädagogische Fragestellungen an und beinhaltet gleichermaßen zahlreiche Elemente der Verteilungsgerechtigkeit: Gibt es ausreichend Angebote, um möglichst viele Menschen zu einem kompetenten Medien-/Digitalumgang zu befähigen? Werden individuelle Bedürfnisse und Voraussetzungen dabei ausreichend berücksichtigt? Wie können Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten beim Kompetenzerwerb bedarfsgerecht unterstützt werden?

4. „Verwirklichungsgerechtigkeit meint, dass Menschen einen Anspruch auf die Verwirklichung ihrer Befähigungen bzw. Vermögen (Capabilities) haben, wie z. B. körperliche Integrität (Bewegungsfreiheit, Sicherheit vor Gewalt) oder politische Partizipation“ ​(Czollek et al. 2019, S. 24)​. Die (Selbst-)Verwirklichung ist eng verbunden mit einem Vermögen, Kontrolle über die eigene Umwelt auszuüben. Das schließt in politischer Hinsicht auch das Recht auf Partizipation ein ​(Czollek et al. 2019, S. 198–199)​. Partizipation ist gleichermaßen ein erklärtes Ziel aktiver Medienarbeit. Daran anknüpfend sollte kritisch hinterfragt werden, welche Möglichkeiten zur Verwirklichung und Partizipation aktuell für welche Menschen zu Verfügung stehen. Wie können vielfältige Potenziale genutzt werden und wie können möglichst viele Menschen ihre unterschiedlichen Kompetenzen in einer digitalisierten Welt einbringen? Wie kann die Gesellschaft als Ganzes von diversen Fähigkeiten und Fertigkeiten profitieren?

Angesichts der dargestellten Gerechtigkeitsdimensionen könnte ein idealtypischer Minimalkonsens lauten: Jeder Mensch fühlt sich ausreichend gut befähigt, den eigenen digitalen Alltag (mit Rücksicht auf andere) zu bewältigen und damit einhergehende Herausforderungen angemessen zu beurteilen. Dies würde auch die Möglichkeiten zur Befähigung, zum Kompetenzerwerb und zur Teilhabe stärker in den Fokus rücken. Im besten Fall würden die mit dem Begriff „Medien- und Digitalkompetenz“ verbundenen Ansprüche damit zugleich ein Stück weit gerechter – im Sinne der Diversität!

Literatur

  1. ​Digitales Deutschland (2021). Rahmenkonzept. https://digid.jff.de/rahmenkonzept.​
  2. ​Czollek, Leah Carola/Perko, Gudrun/Kaszner, Corinne/Czollek, Max (2019). Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Zitation

Berg, K.; Cousseran, L. 2023: Welche Kompetenz für wen? Von den Herausforderungen einer diversitätssensiblen Medien- und Digitalkompetenz. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/diversitaet/diversitaetssensible-medienkompetenz/

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