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Altersdiskriminierung durch digitale und KI-basierte Technologien? Eine Bestandsaufnahme

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Altersdiskriminierung durch digitale und KI-basierte Technologien? Eine Bestandsaufnahme

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, digitale und KI-basierte Technologien so einzusetzen, dass sie das individuelle Alltagsleben älterer Menschen gezielt unterstützen. Doch es besteht gleichzeitig die Gefahr, dass Ältere von neuen Technologien diskriminiert werden. Der Beitrag beleuchtet den Forschungsstand zur Frage, wie divers digitale und KI-basierte Technologien im Hinblick auf Barrierearmut, Vielfalt und Inklusion im höheren Lebensalter sind.

Altersdiskriminierung durch Künstliche Intelligenz (KI) - Szenarien

Vernetzte Smart-Home-Geräte, die es dem demenzkranken Herrn K nach Verlassen der Wohnung via Sprachassistent erlauben, den Herd auszuschalten. Die App Greta, die es der seheingeschränkten Frau K vor ihrem Filmabend ermöglicht, die Audiobeschreibung des Films herunterzuladen. Der virtuelle Begleitdienst, der die mobilitätseingeschränkte Frau M dabei unterstützt, mit dem Tablet Behördengänge auf elektronischem Weg zu absolvieren. So stellen sich Politik, Wirtschaft und Gesundheitsbranche inklusive Technologien und den idealen Nutzungstypus neuer Technologien vor.     

Die Anwendungs- und Nutzungsszenarien für digitale Angebote und Geräte, die auf KI-Technologien basieren, können jedoch auch anders ausfallen: Der ältere Herr X zahlt eine zusätzliche Servicegebühr, weil er seine Fahrkarten und Reisen aufgrund der schwer zu bedienenden Benutzungsoberflächen lieber analog bucht. Der demenzkranke Herr K hat mittlerweile vergessen, dass das Klingeln seiner Smart Watch bedeutet, dass seine digitale Arzneibox ihn zur Medikamenteneinnahme auffordert. Das ältere Ehepaar XY mit Migrationshintergrund wendet sich lieber wieder den alten analogen Geräten zur Messung von Bluthochdruck und Blutzuckerwerten zu, weil die Smart Watch und die Gesundheitstracker-App zunächst Fehlermeldungen und dann Messwerte anzeigen, deren medizinische Bedeutung sie nicht verstehen. Der mobilitätseingeschränkten Frau M werden bestimmte Angebote und Dienstleistungen vorenthalten, weil das KI-System annimmt, dass sie weniger fit oder technisch versiert ist. Die Sprachbefehle des hochaltrigen Herrn Z werden von der Spracherkennungssoftware nicht gut verstanden, weil Ältere in den Trainingsdaten für den Algorithmus unterrepräsentiert sind. 

Diversität im Alter

Diese Beispiele veranschaulichen zum einen, dass die Gruppe älterer Menschen sehr heterogen ist, weil sie sowohl Ältere mit unterschiedlichem Einkommen, Gesundheits- und Bildungsstand, mit unterschiedlicher Einbettung in soziale Netze und Erfahrungen im Umgang mit Technik als auch Ältere mit und ohne Migrationshintergrund umfasst. Die Szenarien veranschaulichen zum anderen, dass die Formen der Altersdiskriminierung bei der (Nicht-)Nutzung digitaler Technologien und KI-basierter Systeme vielfältig sein können. KI schreibt die Vorurteile fort, die bereits in den menschlichen Köpfen und gesellschaftlichen Strukturen der analogen Welt verankert waren. Zwar werden ältere Menschen zu den vulnerablen Gruppen gezählt, die potenziell von Diskriminierung durch KI betroffen werden können (FRA 2020, S. 72) [1] . Doch lediglich 40 % der Unternehmen und Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung in EU-Ländern werden von der Sorge umgetrieben, dass der Einsatz von Algorithmen, etwa beim Verbraucherschutz oder bei Ansprüchen auf Sozialversicherung, direkt oder indirekt zur Diskriminierung führen kann (FRA 2020, S. 69, S. 73). Hinzu kommt, dass betroffene Bürger*innen bislang kaum in der Lage sind, Diskriminierungen durch technische Systeme rechtlich anzufechten.

Die Wiederkehr des Narrativs der „technikinkompetenten“ Älteren

Bereits mit der kommerziellen und privaten Nutzung des Internets hat sich die Vorstellung einer „grauen digitalen Spaltung“ verbreitet (Huxhold et al. 2020, S. 271–272) [2] . Mit dem Aufkommen von KI-Systemen und altersgerechten Assistenzsystemen (Ambient Assisted Living, AAL) werden die Warnrufe lauter. Ältere mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen, für die AAL am sinnvollsten wäre, seien am wenigsten in der Lage, solche Innovationen für sich selbst zu nutzen. So zeigt eine Studie mit über 11.000 über 60-Jährigen, dass die größte Anzahl von Nichtnutzer*innen ältere Frauen, Ältere mit schlechten Deutschkenntnissen, ältere Bezieher*innen von Sozialleistungen, Ältere mit einem hohen Pflegegrad sowie diejenigen Älteren sind, die ihre Mobilität und ihre Gedächtnisleistung als schlecht einschätzen (Jarke/Kubicek 2022, S. 9) [3] . Empirische Mediennutzungsstudien beschreiben Ältere als „technikinkompetent“, attestieren den „BabyboomerInnen (56 bis 65 Jahre) und alle[n] älteren Generationen“ niedrige digitale Kompetenzen und bezeichnen die bis 1945 Geborenen als „Digital Abseitsstehende“ (Initiative D21 e. V. 2022, S. 35 und S. 48) [4] , auch wenn sowohl die Technikbiografien (lebenslange Erfahrung im Umgang mit Technologien) als auch die persönlichen Einstellungen zu Technologien von Älteren ab 60 Jahren sehr unterschiedlich sind (Rathgeb et al. 2022, S. 60–62) [5] .

„Erfolgreiches“ Altern in digitalisierten Gesellschaften

Mit dem Siegeszug des Internets wiesen Alterssoziologen (Riley/Riley 1994) [6] bereits in der Mitte der 1990er-Jahre darauf hin, dass ein erfolgreiches Altern in Wissens- und Informationsgesellschaften nur dann möglich ist, wenn die Gesellschaft Unterstützungsmöglichkeiten für den Umgang mit technologischem Wandel bereitstellt. Sie beklagten, dass es nicht die Älteren sind, die der technologischen Entwicklung hinterherhinkten, sondern die Institutionen, Gesetze und Normen, die dadurch die Teilhabemöglichkeiten Älterer begrenzten (Rowe/Kahn 2015, S. 594) [7] . 

Vor diesem Hintergrund hat sich in den letzten Jahren in Deutschland einiges bewegt. So setzt sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) dafür ein, dass Ältere mit Migrationserfahrung oder Ältere mit einer nicht heterosexuellen Orientierung nicht nur Zugang zur Altenhilfe haben (BAGSO 2023) [8] , sondern auch digitale Teilhabemöglichkeiten wahrnehmen können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert seit 2009 die Erforschung von Ambient Assisted Living (AAL), sodass die Bedeutung dieser Technologien für pflegebedürftige Menschen inzwischen auch zu den Wohlfahrtsverbänden, Kranken- und Pflegekassen sowie Kommunen und Verbraucherzentralen vorgedrungen ist (Jarke/Kubicek 2022, S. 11-12). 

Forschungslücken

Ungeachtet dieser Bemühungen bleibt die Forschungslage weiterhin dünn. So fehlt bislang der empirische Nachweis, dass der Einsatz digitaler Technologien, beispielsweise im Bereich der Pflege, die Lebenssituation älterer Menschen verbessert (BMfSFJ 2020, S. 10, S. 30) [9] . Ein gezieltes Monitoring zu den Digitalkompetenzen Älterer in den Lebensbereichen Wohnen, Mobilität, soziale Integration, Gesundheit, Pflege sowie Leben im Quartier steht noch aus (BMfSFJ 2020, S. 49). Nach wie vor ist auch für den speziellen Bereich der AAL ungeklärt, welche Akteure wo und wie Beratungs- und Unterstützungsleistungen für welche Zielgruppen innerhalb der Gruppe älterer Menschen anbieten sollen (Jarke/Kubicek 2022, S. 15). Zudem sind Hochaltrige, ältere Migrant*innen, von Armut betroffene Ältere, Ältere mit gesundheitlichen Einschränkungen und hochaltrige Frauen Zielgruppen, deren Lebenslagen und digitale Mediennutzung bislang noch zu wenig erforscht worden sind (Hartung-Griemberg/Bogen 2023, S. 20) [10] .

Ausblick

Um Altersdiskriminierung durch digitale und KI-basierte Systeme zu umgehen, müssen Internetdienste barrierearm gestaltet sein. Es ist unabdingbar, Algorithmen mit Daten von Älteren zu trainieren und KI-gesteuerte Empfehlungs- und Entscheidungssysteme auf Vorurteilsfreiheit zu prüfen. Ferner muss die Medienarbeit mit Älteren langfristig in Form aufsuchender Maßnahmen (zum Beispiel Hausbesuche, Telefon-Hotlines, Sprechstunden) erfolgen. Es hat sich gezeigt, dass Ältere, die bereits über Bedienkompetenzen verfügen, sich nach dem Ende einer Weiterbildungsmaßnahme nicht selbst helfen können, weil es ihnen an Problemlösungskompetenzen mangelt (Jarke/Kubicek 2022, S. 77). Bislang greifen die Bildungsangebote von Seniorenverbänden, Vereinen und Initiativen in unterstützender Weise, indem sie individuelle Beratungen und Schulungen für Ältere anbieten. Diese Angebote sind im Gesundheitsbereich aber zukünftig nicht mehr allein durch diese Bildungsträger und die dortigen, meist ehrenamtlich arbeitenden Akteure abzudecken. Denn die neuen Digital- und Pflegeanwendungen auf Smartphones und die technisch neuen Objekte (zum Beispiel Sensoren und Aktoren am Körper und in räumlichen Umgebungen) setzen zusätzlich ein inhaltliches Verständnis der Anzeigen und medizinischen Werte auf den Geräten voraus. Um Älteren entsprechende Unterstützungsleistungen bei der Nutzung dieser Anwendungen zu unterbreiten, müssen nicht nur Millionen von Ärzt*innen, Pflege(hilfs)kräften, Krankenpfleger*innen und medizinischen Fachangestellten weitergebildet werden, sondern auch das Personal in Wohnberatungen (Jarke/Kubicek 2022, S. 12).   

Wenn Ältere darüber hinaus die Digitalisierung aktiv durch die Gestaltung konkreter Technologien, netzpolitischer Rahmenbedingungen und kommunaler Digitalisierungsprojekte mit prägen sollen (Stubbe et al. 2022, S. 21, S. 31, S. 63, S. 68) [11] , so müssen auch die kritisch-reflexiven, kreativen und sozialen Dimensionen von Medienkompetenz stärker als bislang gefördert werden. Denn viele der bisherigen Bildungsangebote konzentrieren sich einseitig auf die Bedienung von Geräten (instrumentell-qualifikatorische Kompetenzen) und bieten wenig Raum für kritische Reflexionen und die Diskussion ethischer Fragestellungen (BMfSFJ 2020, S. 36–37).

Literatur

    1. FRA (European Union Agency for Fundamental Rights) (2020). Getting the future right. Artificial intelligence and fundamental rights. https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2020-artificial-intelligence_en.pdf  
    2. Huxhold, Oliver/Hees, Elena/Webster, Noah J. (2020). Towards bridging the grey digital divide: changes in internet access and its predictors from 2002 to 2014 in Germany. In: European Journal of Ageing, 17, S. 271–280. https://doi.org/10.1007/s10433-020-00552-z   
    3. Jarke, Juliane/Kubicek, Herbert (2022). Altersgerechte Assistenzsysteme im sozialen Kontext. 10 Szenarien aus Hessen als Beispiele für die große Vielfalt. Herausgegeben von ifib consult GmbH, Juni 2022. https://digitales.hessen.de/sites/digitales.hessen.de/files/2023-01/altersgerechte_assistenzsysteme_barrierefrei.pdf  
    4. Initiative D21 e. V. (2022). D21 DIGITAL INDEX 2021/2022. Jährliches Lagebild zur Digitalen Gesellschaft. https://initiatived21.de/app/uploads/2022/02/d21-digital-index-2021_2022.pdf 
    5. Rathgeb, Thomas/Doh, Michael/Tremmel, Florian/Jokisch, Mario R./Groß, Ann-Katrin (2022). SIM-Studie 2021. Senior*innen, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang von Personen ab 60 Jahren in Deutschland. Herausgegeben vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest [mpfs]. https://www.mpfs.de/studien/sim-studie/2021/ 
    6. Riley, Mathilda White/Riley, John W. (1994). Structural lag: Past and future. In: Riley, Mathilda White/Kahn, Robert L./Foner, Anne (Hrsg.), Age and structural lag: Society’s failure to provide meaningful opportunities in work, family and leisure. New York: Wiley, S. 15–36.
    7. Rowe, John W./Kahn, Robert L. (2015). Successful aging 2.0: conceptual expansions for the 21st century. In: Journals of Gerontology, Series B: Psychological Sciences and Social Sciences, 70 (4), S. 593–596. doi:10.1093/geronb/gbv025  
    8. BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e. V. (2023). Vielfalt im Alter. https://www.bagso.de/themen/vielfalt/ [Zugriff: 15.03.2023] 
    9. BMfSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2020). Ältere Menschen und Digitalisierung. Erkenntnisse und Empfehlungen des Achten Altersberichts. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/159704/3dab099fb5eb39d9fba72f6810676387/achter-altersbericht-aeltere-menschen-und-digitalisierung-data.pdf  [Zugriff: Ergänzen] 
    10. Hartung-Griemberg, Anja/Bogen, Cornelia (2023). Zum Stand der Debatte in Deutschland. In: Medien & Altern. Zeitschrift für Forschung und Praxis, 21 (2), S. 12–27. 
    11. Stubbe, Julian/Schaat, Samer/Ehrenberg-Silies, Simone (2019). Digital souverän? Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben im Alter. Herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/digital-souveraen

Zitation

Bogen, C. 2023: Altersdiskriminierung durch digitale und KI-basierte Technologien? Eine Bestandsaufnahme. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/diversitaet/altersdiskriminierung-ki/

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