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Wissen, Gefühle und ihr Einfluss auf soziales Handeln

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Wissen, Gefühle und ihr Einfluss auf soziales Handeln

Fühlen und Wissen sind keine Gegensätze, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Das gilt nicht nur für explizites Wissen, das versprachlicht werden kann, sondern auch für eher unbewusste Wissensformen wie Fertigkeiten (z. B. Fahrradfahren oder Lesen). Gefühle und Wissen beeinflussen darüber hinaus, wie wir in sozialen Situationen handeln. Exemplarisch dafür steht das geteilte Wissen über soziale Gefühlsnormen. Sie geben vor, welche Emotionen in bestimmten Kontexten erwünscht sind – wie zum Beispiel die Trauer auf einer Beerdigung – und prägen dadurch die Art und Weise, wie sich Menschen verhalten. Der Zusammenhang zwischen Wissen, Gefühlen und sozialem Handeln wird im folgenden Beitrag am Beispiel digitaler Räume skizziert.

Im Alltagsverständnis werden Gefühle häufig als körperliche Empfindungen erachtet, die dem kognitiven Wissen entgegenstehen. Dieser Auffassung zufolge gelten Emotionen oftmals als unberechenbare und eigenmächtige Kräfte, wohingegen Wissen eher mit angeeigneten Fakten und damit einhergehend Vernunft und Rationalität gleichgesetzt wird.

Aus emotionssoziologischer Perspektive betrachtet ist das Verhältnis dieser beiden Phänomene jedoch vielschichtiger, da Wissen und Fühlen in Verbindung zueinander stehen. Gefühle entstehen auf der Grundlage von Wissen und gleichzeitig ist Wissen durchdrungen von ihnen. Der folgende Beitrag soll diese Verwobenheit darlegen und umreißen, inwiefern Wissen und Gefühle soziales Handeln – speziell solches in digitalen Räumen – beeinflussen.

Explizites und implizites Wissen

Fühlen und Wissen sind keine Gegensätze, sondern eng miteinander verknüpft. Das bezieht sich zum einen auf Wissen, das bewusst und reflexiv zugänglich ist und landläufig häufig mit der kognitiv erlernten Kenntnis von Informationen verbunden wird. Dazu zählen zum Beispiel Erkenntnisse und Fähigkeiten, die institutionelle Lernprozesse in Schulen oder Universitäten vermitteln. Davon zu unterscheiden und mindestens ebenso bedeutend für soziale Handlungszusammenhänge ist jenes Wissen, das nicht versprachlicht ist, also nicht explizit vorliegt. Dieses sogenannte schweigende oder implizite Wissen bedingt auf verschiedene Arten und Weisen, wie wir uns fühlen und verhalten. Implizites Wissen ist eine unbewusste, verinnerlichte Form des Wissens, das nicht einfach in Sprache übersetzt werden kann. Als klassisches Beispiel dafür wird häufig das Fahrradfahren genannt (Adloff 2013) [1] . Die meisten Menschen erlernen diese Fähigkeit, ohne die physikalischen Gesetzmäßigkeiten oder genauen Abläufe dahinter zu kennen. Ähnlich verhält es sich mit dem Wiedererkennen von Gesichtern (Polanyi 1966/1985) [2] . Vielen fällt es schwer, die genauen Unterschiede zwischen Nasen, Mündern und Augen von verschiedenen Personen zu benennen. Allerdings können sie Gesichter eindeutig verschiedenen Menschen zuordnen.

Gefühle als eine Form impliziten Wissens

Implizites Wissen ist nicht ausschließlich auf praktische Fähigkeiten beschränkt, sondern betrifft auch die soziale Ebene, an der Gefühle beteiligt sind. Gefühle werden im Folgenden als Überbegriff verwendet, wenn es um eine allgemeine Form des subjektiven Empfindens geht. Emotionen sind Teil dieses subjektiven Empfindens, jedoch noch spezifischer als solche Gefühle zu verstehen, die intentional auf etwas Konkretes gerichtet sind und meist temporär auftreten. Dazu zählt zum Beispiel die Angst vor Spinnen, der Ärger auf eine Freundin oder die Freude über ein anstehendes Ereignis. Theoretisch von diesen klar benennbaren Emotionen abzugrenzen sind Affekte, die als vorkognitive und vorsprachliche Gefühle gelten und häufig diffus und unbestimmt sind.

Alle Gefühle beeinflussen soziales Handeln. Jedoch läuft dies bei sprachlich klar benennbaren Emotionen noch einmal anders ab, als es bei eher diffus und andauernd auftretenden Affekten der Fall ist – sie entziehen sich dem Bewusstsein weitestgehend. Affekte treten selbst als eine Form impliziten Wissens in Erscheinung und bedingen zum Beispiel in Gestalt von Stimmungen, Atmosphären oder verinnerlichten Grundgefühlen maßgeblich soziales Handeln (Sauerborn & von Scheve 2017) [3] . Gefühle wirken dann als ein eigenständiger und von Kognitionen distinkter „Modus der Weltaneignung“ (Gerhards 1988: 72) [4] . Affektive Stimmungslagen lassen sich im Gegensatz zu Emotionen weniger aus einem Ursache-Reaktions-Schema heraus verstehen, sondern vielmehr als eine anhaltende Form des Weltbezugs, die sämtliche Facetten des Daseins durchzieht (Slaby 2011) [5] . Sie können daher auch als „Hintergrundphänomene“ (Schützeichel 2015) [6] bezeichnet werden.

Gefühle, Wissen und ihre soziale Bedeutung

Bei Affekten als einer Form von implizitem Wissen geht es also um zeitlich nicht immer eingrenzbare Stimmungslagen, die zwar handlungsrelevant sind, derer wir aber oftmals gar nicht oder erst in der Retrospektive gewahr werden. Die meisten Menschen haben wahrscheinlich schon einmal erlebt, wie sie sich in einem bestimmten Umfeld anders als üblicherweise verhalten und dies allein auf die „Atmosphäre“, die dort herrschte, zurückführen können. Diese Gefühle haben auch soziale und politische Auswirkungen. Das lässt sich zum Beispiel anhand von andauernden Gefühlen wie Ressentiments beobachten, die gegen eine bestimmte Gruppe gehegt werden und die Einstellungen und Handlungen maßgeblich prägen. Somit haben affektive Stimmungslagen einen starken Einfluss auf gesellschaftliche und politische Phänomene, indem sie beispielsweise konkrete Erscheinungen wie Wahlergebnisse mit beeinflussen. Auf ähnliche Art und Weise sind soziale Ungleichheiten verflochten mit Affekten. Exemplarisch demonstrieren Bourdieus (1982) [7] Arbeiten über das Konzept des Habitus, der als vorreflexives und vorsprachliches Körperwissen gilt, inwiefern soziale Strukturen und Gefühlswissen miteinander verwoben sind. Hier zeigt sich, dass sich Klassenzugehörigkeit immer auch als implizites Wissen in den affektiven Verhaltensweisen Einzelner widerspiegelt.

Wissen und Gefühlsnormen

Gefühle entstehen nicht aus dem Nichts heraus, sondern sind immer eingebunden in soziale Zusammenhänge. Ein wesentlicher Bestandteil dessen sind soziale Normen und Regeln, die ein „richtiges“ und ein „falsches“ Fühlen in bestimmten Zeiten, Kontexten, Situationen und so weiter markieren. Wie wir uns in welcher Situation zu fühlen und welche Gefühle wir wann, wo und in welcher Intensität ausdrücken sollten, kennzeichnen soziale Regeln, die die Soziologie als „Gefühlsnormen“ bezeichnet. Manche von ihnen können explizit gemacht werden und manifestieren sich in sprachlichen Wendungen, wie zum Beispiel im Imperativ „Du solltest dich schämen“. Viel umfangreicher jedoch sind gefühlsspezifische Normen und Regeln, die als implizites Wissen im Laufe der Sozialisation erlernt werden. Sie können, müssen aber nicht expliziert werden, um zu gelten und zu wirken. Insofern sind nicht nur Gefühle selbst Folgen impliziten Wissens, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Normen und Regeln.

Gefühle und Wissen hängen daher eng mit sozialen Handlungen und in einem größeren Kontext auch mit sozialen Strukturen und Ordnungen zusammen. Das betrifft auch den digitalen Raum, in dem Gefühle hergestellt und ausgedrückt werden und in dem affektive Wissensformen überall präsent sind. Der Ausdruck von Gefühlen in sozialen Medien zum Beispiel findet zweifellos in Form von sprachlicher Explikation statt, wie sie sich zum Beispiel in Hate Speech niederschlägt. Gleichermaßen geben auch im digitalen Raum teils explizite (wie zum Beispiel durch die Netiquette vorgegebene) und zahlreiche implizite Gefühlsnormen vor, welche Emotionen und Affekte gerechtfertigt erscheinen, in welcher Form sie ausgedrückt werden können und ob und wie ein Regelbruch, wie etwa durch Melden oder Entfolgen, sozial sanktioniert wird. Beispielsweise lassen sich – ohne dass es irgendwo explizit gefordert oder reguliert wäre – unterschiedliche Gefühlsnormen auf verschiedenen Plattformen beobachten. So wurde 2018 der Ausdruck von negativen Gefühlen wie Wut, Enttäuschung und Sorge auf Facebook und Twitter eher als angemessen erachtet, als dies auf Instagram der Fall war (Waterloo et al. 2018) [8] .

Gefühle und Wissen im digitalen Raum

Zahlreiche Studien der Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften, Soziologie und vieler anderer Disziplinen haben die emotionale Seite des Digitalen und dabei vor allem des Internets untersucht (Benski & Fisher 2014) [9] . Dabei geht es neben konkreten Emotionen wie zum Beispiel Hass, Hoffnung, Trauer und Neid (Serrano-Puche 2015) [10] auch um die affektiven, körperlichen Komponenten, die als Ausdruck von impliziten Wissensformen zutage treten. Insbesondere soziale Medien sind, wenig überraschend, auf unendlich viele Arten und Weisen durchdrungen von Affektivität.

Einige Beispiele aus der empirischen Forschung können dies illustrieren: Auf der Grundlage von Twitter-Daten analysiert Papacharissi (2015) [11] „affective publics“ und beschreibt, wie soziale Medien über affektives Engagement der Nutzenden Teil von politischen Bewegungen werden. Die Autorin argumentiert, dass Twitter Praktiken des affektiven Geschichtenerzählens mit öffentlichen Nachrichten verbindet. Hier tritt zutage, wie diese impliziten Wissensformen auch verknüpft sind mit explizit Diskursivem und dadurch ein sehr grundsätzliches Element sozialer Handlungszusammenhänge darstellen (vgl. Lünenborg 2020, S. 15) [12] . Der Einfluss auf Öffentlichkeiten verdeutlicht zudem, wie Affekte speziell politisches Handeln prägen.

Wie Gefühle und Wissen darüber hinaus zusammenhängen können, zeigen Coviello et al. (2014) [13] in ihrer Studie über emotionale Ansteckung in großen sozialen Netzwerken. Auf einer breiten Grundlage von Facebook-Daten erörtern sie, wie Wettererscheinungen wie Regen den emotionalen Inhalt von Statusmeldungen beeinflussen. Interessanterweise gilt dies nicht nur für Personen in den Städten, in denen es regnet, sondern auch für deren Freunde in Orten mit anderem Wetter.

Welche Rolle Emotionsnormen und Affekte als implizites Wissen auf digitale Räume haben, kann anschaulich anhand der Ergebnisse von Töppers (2021) [14] Studie zur „medialen Affektökonomie“ illustriert werden. Die Analyse von Social-Media-Kommentaren zur Sendung Germany’s Next Topmodel legt dar, inwiefern erlernte affektive Ordnungen und Normen Zuschauende dazu bewegen, im TV angewandte Inszenierungsmittel online zu bewerten und zu diskutieren. Dieser Austausch über die Fernsehsendung entfaltet sich entsprechend den geltenden Gefühlsnormen und trägt zur digitalen Gemeinschaftsbildung bei. Keineswegs muss der Antrieb, an solch digitalen Interaktionen teilzunehmen, Ausprägung einer Emotion sein, derer sich die Zuschauenden gewahr sind. Jedoch haben diese affektiven Motivationen Auswirkungen auf soziale Handlungen und damit auf die digitalen Räume und hier speziell auf das Internet selbst.

Die soziale Dynamik im digitalen Raum ist also wesentlich beeinflusst von gefühlsspezifischen Erscheinungen und damit zusammenhängenden Wissensformen. Explizites Wissen über Gefühle ist in digitalen Räumen bedeutend und zeigt sich unter anderem in einem zunehmenden Reden über Gefühle. Aber auch Affekte treten als implizites Wissen hervor und treiben Nutzende oftmals unbewusst an, auf bestimmte Arten und Weisen digital zu handeln, zum Beispiel durch das Kommentieren. All dies ist geprägt von Gefühlsnormen, die auch im Internet vorgeben, welche Gefühle als angemessen erscheinen oder als abweichend sanktioniert werden.

Literatur

  1. Adloff, Frank (2013). Gefühle zwischen Präsenz und implizitem Wissen. Zur Sozialtheorie emotionaler Erfahrung. In: Ernst, Paul (Hrsg.), Präsenz und implizites Wissen. Zur Interdependenz zweier Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript, S. 97-124.
  2. Polanyi, Michael (1966/1985). Implizites Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  3. Sauerborn, Elgen/Von Scheve, Christian (2017). Emotionen, Affekte und implizites Wissen. In: Kraus, Anja/Budde, Jürgen/Hietzge, Maud/Wulf, Christoph (Hrsg.), Handbuch „Schweigendes“ Wissen in Lernen und Erziehung, Bildung und Sozialisation. Weinheim: Beltz Juventa.
  4. Gerhards, Jürgen (1988). Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven. Weinheim, München: Juventa Verlag.
  5. Slaby, Jan/ Stephan, Achim/ Walter, Henrik/ Walter, Sven (Hrsg.) (2011). Affektive Intentionalität: Beiträge zur welterschließenden Funktion menschlicher Gefühle. Paderborn: Mentis. doi: 10.30965/978396975142
  6. Schützeichel, Rainer (2015). The Background of Moods and Atmospheres. In: Adloff, Frank /Gerund, Katharina/Kaldewey, David (Hrsg.) (2015). Revealing Tacit Knowledge: Embodiment and Explication. Bielefeld: Transcript, S. 61-86.
  7. Bourdieu, Pierre/Schwibs, Bernd/Russer, Achim (Hrsg.) (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  8. Waterloo, Sophie F./Baumgartner, Susanne E./Peter, Jochen/Valkenburg, Patti M. (2018). Norms of online expressions of emotion: Comparing Facebook, Twitter, Instagram and WhatsApp. In: New media & society, 20 (5), S 1813–1831. doi: 10.1177/1461444817707349
  9. Benski, Tova/Fisher, Eran (Hrsg.) (2014). Internet and Emotions. New York: Routledge.
  10. Serrano-Puche, Javier (2015). Emotions and Digital Technologies: Mapping the Field of Research in Media Studies. London School of Economics and Political Science. https://dadun.unav.edu/bitstream/10171/39702/1/WP33_FINAL-Emotions and Digital Technologies.pdf [Zugriff: 05.05.2022]
  11. Papacharissi, Zizi (2015). Affective Publics: Sentiment, Technology, and Politics. NY: Oxford University Press. doi: 10.1093/acprof:oso/9780199999736.001.0001
  12. Lünenborg, Margreth (2020). Soziale Medien, Emotionen und Affekte. Working Paper SFB 1171, Affective Societies 01/20. doi: 10.17169/refubium-27701
  13. Coviello, Lorenzo et al. (2014). Detecting Emotional Contagion in Massive Social Networks. In: PloS one, 9(3), e90315. doi:10.1371/journal.pone.0090315
  14. Töpper, Claudia (2021). Mediale Affektökonomie. Emotionen im Reality TV und deren Kommentierung bei Facebook. Bielefeld: Transcript.

Zitation

Sauerborn, E. 2022: Wissen, Gefühle und ihr Einfluss auf soziales Handeln in digitalen Räumen. Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/emotionen/gefuehle-digitaler-raum/

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