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Der Umgang mit Emotionen im digitalen Zeitalter

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Der Umgang mit Emotionen im digitalen Zeitalter

Durch die technischen Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung einhergehen, haben wir erstmalig Werkzeuge zur Verfügung, mit deren Hilfe sich Emotionen und Emotionsregulation im Alltag zuverlässig erfassen lassen. Gleichzeitig können wir über digital vermittelte Interventionen Menschen dabei helfen, ihre Gefühle so zu regulieren, dass sich ihr Wohlbefinden verbessert. Im Beitrag beschreibe ich die Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung hinsichtlich des Erkennens und der Regulation emotionalen Erlebens.

Vor etwa vier Jahren wollte ich von Berlin nach Zürich fliegen, als technische Probleme das Abheben des Flugzeugs verhinderten. Der Flug verspätete sich und die Passagiere waren gezwungen, bei großer Hitze im Flieger angeschnallt sitzen zu bleiben. Diese zugegebenermaßen unangenehme Situation wirkte sich auf die Passagiere jedoch ganz unterschiedlich aus. Einige beschwerten sich lautstark und wollten aussteigen, andere machten Witze, wieder andere wirkten gestresst oder ängstlich und nur wenige blieben gelassen.

Mittels Fragebögen könnten wir (als Forschende) versuchen, diese individuellen emotionalen Reaktionen der einzelnen Passagiere im Nachhinein zu messen. Diese retrospektive Selbsteinschätzung könnte jedoch durch die aktuelle Stimmung beeinflusst oder durch Erinnerungsfehler verzerrt sein, z. B. in der Erinnerung ist die Person wesentlich gelassener geblieben, als dies tatsächlich der Fall war.

Durch die technischen Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung einhergehen, haben wir erstmalig Werkzeuge zur Verfügung, mit deren Hilfe sich Emotionen und Emotionsregulation im Alltag zuverlässig erfassen lassen. So können wir beispielsweise Studienteilnehmende bitten, mehrfach am Tag ihr momentanes emotionales Erleben mittels eines Smartphones zu dokumentieren. Auf diese Art und Weise können wir herausfinden, welche Emotionen die Personen gerade erleben, wie intensiv diese sind, welche Strategien zur Emotionsregulation sie nutzen und ob diese funktioniert haben. Gleichzeitig können wir über Fitnesstracker die Herzfrequenz und weitere psychophysiologische Parameter, wie unter anderem die Hautleitfähigkeit, den Sauerstoffgehalt im Blut und die Herzratenvariabilität, als Indikatoren für Stresserleben messen und diese Daten zum emotionalen Erleben und Wohlbefinden in Beziehung setzen. Wir können zudem Daten akquirieren, die zeigen, welchen Einfluss die Anwesenheit anderer Menschen auf das emotionale Erleben der Teilnehmenden hat und unter welchen Bedingungen negative Gefühle am häufigsten auftreten.

Diese Informationen ermöglichen es uns zu verstehen, wie emotionales Erleben und Emotionsregulation unser Wohlbefinden im Alltag beeinflussen. Wir untersuchen beispielsweise aktuell, ob zu Beginn einer depressiven Störung negative Emotionen häufiger und mit höherer Intensität auftreten oder positive Emotionen seltener erlebt werden (oder beides). Dabei nehmen wir auch in den Blick, inwiefern Emotionsregulationsstrategien wie Grübeln und Emotionsunterdrückung diese Veränderungen im emotionalen Erleben mit bedingen. Dies soll dabei helfen, Frühwarnzeichen zu identifizieren, die signalisieren, dass sich eine depressive Symptomatik herausbildet, um möglichst früh intervenieren zu können.

In unserer Arbeitsgruppe verwenden wir hierzu die App Emotrack, die es uns gestattet, das emotionale Befinden und Emotionsregulationsprozesse im Alltag zu untersuchen. Gleichzeitig hilft die App, Menschen anzuregen, über ihre Gefühle nachzudenken und diese zu beschreiben. Wie die Emotionsforscherin Lisa Barrett zeigen konnte, ist bereits eine differenzierte Beschreibung und Benennung emotionalen Erlebens hilfreich für dessen Regulation und steigert das Wohlbefinden signifikant (Barrett et al. 2007) [1] .

Zudem können wir ambulante digitale Interventionen (engl. EMI, ecological momentary intervention) entwickeln, die als kostenlose Download-App Menschen dabei unterstützen könnte, ihre Gefühle im Alltag zu regulieren. Diese App könnten wir sehr vielen Menschen zur Verfügung stellen. Folgendes fiktives Beispiel soll das illustrieren: Gibt Herr Mustermann als intensivstes Gefühl in verschiedenen Situationen Traurigkeit an und möchte er dies verändern, könnte unsere EMI-App Regulationsstrategien empfehlen, die sich als funktional im Umgang mit diesem Gefühl gezeigt haben, wie u. a. Akzeptanz (die Traurigkeit nicht bewertend wahrzunehmen), Neubewertung (Emotion als hilfreich neu zu bewerten) oder das Führen eines Emotionstagebuchs. Wählt Herr Mustermann „Neubewertung“ als Strategie, könnte die App verschiedene hilfreiche Textbausteine vorschlagen, die entweder standardisiert vorgegeben sind oder mit ihm erarbeitet wurden, wie beispielsweise: „Gefühle vergehen umso schneller, je weniger ich sie durch Grübeln verstärke“ oder „Gefühle sind nicht beständig und lassen sich regulieren“. Solche hilfreichen Bewertungen tragen dazu bei, dass dysfunktionale Gedanken wie „Emotionen lassen sich nicht beherrschen“ oder „Traurigkeit sollte man besser unterdrücken“ seltener auftreten, was wiederum das Risiko, depressive Symptome zu entwickeln, senkt. „Neubewertung“ ist hierbei eine der effektivsten Strategien zur Emotionsregulation (Barnow 2017 [2] ; Barnow et al. 2020 [3] ; Barnow 2020 [4] ; Ford et al. 2017 [5] ; Webb et al. 2012 [6] ). Entscheidet sich Herr Mustermann dazu, die auslösende Situation und seine Gefühle in ein Emotionstagebuch einzutragen, könnte die App diese Eintragungen mithilfe von Textanalyseprogrammen analysieren. Beispielsweise existieren Programme, die Texte von Essays, Tagebuchnotizen bis hin zu Posts in sozialen Medien nach verschiedenen Kriterien auswerten und in Beziehung zum emotionalen Erleben setzen (Übersicht in: Tausczik/Pennebaker 2009 [7] ). In unserem Beispiel könnte Herr Mustermann nach der Analyse seiner Texte ermuntert werden, öfter positive Emotionswörter und seltener Personalpronomen wie ich, meine, mich usw. zu verwenden, da sich gezeigt hat, dass die Beschreibung emotionaler Reaktionen aus einer distanzierten, eher optimistischen Perspektive heraus Wohlbefinden und positive Emotionen fördert (Grossmann et al. 2019) [8] .

Ist die Digitalisierung also ein Segen für die Emotionsforschung, die emotionale Gesundheit und den Umgang mit Emotionen? Ja und nein. Natürlich gibt es auch Risiken zu bedenken. Die Psychologin Jean Twenge konnte in einer Reihe von Publikationen zeigen, dass ein übermäßiger Gebrauch von sozialen Medien und Smartphone-Apps Angststörungen und Depressionen zu befördern scheint (Twenge 2019 [9] ; Twenge 2019 [10] ; Twenge/Campbell 2019 [11] ). Beispielsweise stieg die Anzahl der Jugendlichen mit depressiven und Angstsymptomen in den letzten Jahren sprunghaft an. Obwohl diese Daten nicht unumstritten sind, da sie u. a. auf Korrelationsanalysen beruhen, könnten meiner Meinung nach die Gründe für diesen Anstieg sein: Je mehr wir soziale Medien nutzen, um u. a. auch Gefühle zu teilen, desto höher ist das Risiko, dass andere uns beneiden, kritisieren oder uns gar zurückweisen oder wir andere beneiden. Die daraus resultierenden Emotionen müssen wir regulieren, was nicht immer gelingt. Zudem hat sich gezeigt, dass eine starke Nutzung digitaler Medien und des Smartphones mit einer geringeren Anzahl direkter Kontakte einherzugehen scheint und so Einsamkeit verstärken kann (Twenge 2019). Ein Grund hierfür ist möglicherweise, dass Apps die Funktion sozialer Interaktionspartner*innen einnehmen und darüber direkte soziale Kontakte vernachlässigt werden. Letztendlich verhindert der häufige Gebrauch des Smartphones und die Verwendung von Apps Achtsamkeit im Alltag, wobei Achtsamkeit mit psychischem Wohlbefinden zusammenhängt. So checkt eine typische Person der sog. westlichen Länder beispielsweise jede sechste Minute das Smartphone (Turkle 2016) [12] .

Für jede Kommunikation im Internet gilt: Nicht immer ist transparent, was mit Daten passiert, und dies gilt auch für geteilte Gefühle. Emotionen (vom lateinischen Wort ēmovēre = bewegen) können uns mobilisieren und auf vielfältige Weise unsere Entscheidungsprozesse beeinflussen. Deshalb besteht die Gefahr, dass Wissen über Emotionen von Einzelnen oder Gruppen dazu verwendet wird, unter anderem Wahlen oder wichtige Entscheidungen zu manipulieren, indem über Apps und News entsprechende Botschaften selektiv lanciert werden.

Insofern gilt auch für den Umgang mit Apps, die Emotionen adressieren, was auf jedem Beipackzettel eines wirksamen Medikaments steht: Bitte beachten Sie die möglichen Nebenwirkungen.

Literatur

    1. Barrett, Lisa Feldman/Lindquist, Kristen A./Gendron, Maria (2007). Language as context for the perception of emotion. In: Trends Cognitive Science, 11(8), S. 327–332. doi:10.1016/j.tics.2007.06.003
    2. Barnow, Sven (2017). Gefühle im Griff! In: Barnow, Sven (Hrsg.), Gefühle im Griff. Berlin, Heidelberg: Springer. doi:10.1007/978-3-662-46428-1_1
    3. Barnow, Sven/Prüßner, Luise/Schulze, Katrin (2020). Flexible Emotionsregulation: Theoretische Modelle und Empirische Befunde. In: Psychologische Rundschau, 71, S. 288–302. doi:10.1026/0033-3042/a000494
    4. Barnow, Sven (2020). Handbuch Emotionsregulation: Zwischen psychischer Gesundheit und Psychopathologie. Heidelberg: Springer. doi:10.1007/978-3-662-60280-5
    5. Ford, Brett Q./Karnilowicz, Helena/Mauss, Iris. B. (2017). Understanding reappraisal as a multicomponent process: the psychological health benefits of attempting to use reappraisal depend on reappraisal success. In: Emotion, 17, S. 905–911. doi:10.1037/emo0000310
    6. Webb, Thomas L./Miles, Eleanor/Sheeran, Paschal (2012). Dealing with feeling: a meta-analysis of the effectiveness of strategies derived from the process model of emotion regulation. In: Psychological Bulletin, 138, S. 775–808. doi:10.1037/a0027600
    7. Tausczik, Yla R./Pennebaker, James W. (2009). The psychological meaning of words: LIWC and computerized text analysis methods. In: Journal of Language and Social Psychology, 29(1), S. 24–54. doi:10.1177/0261927×09351676
    8. Grossmann, Igor/Oakes, Harrison/Santos, Henri C. (2019). Wise reasoning benefits from emodiversity, irrespective of emotional intensity. In: Journal of Experimental Psychology: General, 148 (5), S. 805. doi:10.1037/xge0000543
    9. Twenge, Jean M. (2019). More time on technology, less happiness? Associations between digital media use and psychological well-being. In: Current Directions in Psychological Science, 28(4), S. 372–379. doi:10.1177/0963721419838244
    10. Twenge, Jean M. (2019). Why increases in adolescent depression may be linked to the technological environment. In: Current Opinion in Psychology, 32, S. 89–94. doi:10.1016/j.copsyc.2019.06.036
    11. Twenge, Jean M./Campbell, Keith W.(2019). Media use is linked to lower psychological well-being: evidence from three datasets. In: Psychiatric Quarterly, 90(2), S. 311–331. doi:10.1007/s11126-019-09630-7
    12. Turkle, Sherry (2016). Reclaiming conversation. The Power of Talk in a Digital Age. New York: Penguin Random House.

Zitation

Barnow, S. 2022: Der Umgang mit Emotionen im digitalen Zeitalter . Im Rahmen des Projektes Digitales Deutschland. Online verfügbar: https://digid.jff.de/magazin/emotionen/umgang-emotionen/.

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